Jugend im Bunker: "Ich dachte, wir sterben"

Themenbild
Themenbild(c) REUTERS (ALEXANDER ERMOCHENKO)
  • Drucken

Julia tanzt gern und schießt Selfies. Am Rande der ostukrainischen Stadt Donezk wächst das Mädchen unter Geschützfeuer auf. Ein Auszug aus dem Buch "Die Ukraine im Krieg".

Julia hatte mir eine Nachricht auf Facebook geschrieben: „Du kannst kommen, es ist ruhig bei uns. Bisher zumindest.“ Ich nahm ein Taxi. Vom Zentrum Donezks bis in die Kosarew-Straße waren es mehr als 25 Kilometer. Mit der Marschrutka, dem mit Passagieren vollgestopften Kleinbus, benötigt man bei guter Umsteigeverbindung eineinhalb Stunden. Donezk ist eine weitläufige Millionenstadt, Wohngebiete wechseln sich mit Industrieanlagen und Grünflächen ab, und dazwischen sprießen terikony, die rotbraunen Schlackehügel aus den Bergwerken. Je näher wir an Julias Wohngebiet kamen, desto mehr trat der Taxifahrer aufs Gaspedal, als könne er so den Geschossen entgehen, die hier immer wieder einschlagen. Ich verstand ihn: Nur schnell weg von hier.

Julias Bezirk Petrowskij wurde seit Kriegsbeginn immer wieder beschossen. Er liegt im Südwesten der Stadt, einer Ansammlung aus Wohnblöcken für Schachtarbeiter und Einfamilienhäusern mit Gärten. Als im Sommer 2014 die ukrainische Armee vor den Toren Donezks gestanden hatte und die Separatisten sich aus der Stadt heraus verteidigt hatten, waren hier viele Zivilisten in Schutzkeller geflüchtet. Das Wort dafür, ubeschischte, stand in Petrowskij in roter Farbe an die Hauswände gepinselt. Von den Tausenden, die damals unter die Erde geflohen waren, wohnten in Donezk ein Jahr später noch immer 1000 in den Bunkern. Manche, weil sie ihr Zuhause verloren und nicht die Mittel hatten, um es wieder instand zu setzen; manche, weil sie traumatisiert waren und sich an der Erdoberfläche schlicht fürchteten. Oder weil sie im Kampfgebiet lebten, so wie Julia Wlasowa. Die Kosarew-Straße ist lang und Julias Haus eines der letzten. In der Fassade des einstöckigen Mehrparteienhauses steckten Granatsplitter. Viele Fenster waren mit Plastikfolie verklebt, manche mit Holzplanken zugenagelt. Notdürftige Reparaturen, die schon der nächste Angriff hinwegfegen würde.

Alltag an der Frontlinie. „Wir leben an der Frontlinie“, sagten Julia und die anderen Kinder, wenn man sie nach ihrem Wohnort fragte. Ich hatte sie bei einem Besuch mit der NGO „Verantwortungsvolle Bürger des Donbass“ kennengelernt, die die Bewohner des Hauses regelmäßig mit Medikamenten und Hygieneartikeln versorgte. Julia war 14 Jahre alt, trug ihr brünettes Haar schulterlang, dichte Stirnfransen fielen ihr in die Stirn. Wenn sie lachte, bildeten sich auf ihren Wangen Grübchen. Sie war noch ein Kind, aber sie würde schnell erwachsen werden. Den letzten Rest Babyspeck wollte sie in jenem Sommer loswerden, mit Hilfe eines täglichen Fitnessprogramms, das sie für sich erstellt hatte: 40 Sit-ups, zehn Liegestütze, je 20 Hüftdrehungen nach rechts und nach links, 60 Rumpfbeugen und 30 Kniebeugen. Nach 18 Uhr war Essen streng verboten. Julias Vertraute war Sabina, ein hochgewachsenes Mädchen mit langem, gelocktem Haar und Sommersprossen im Gesicht.

500 Meter vom Haus des Mädchens entfernt standen die opoltschenzi, wie sich die Separatisten selbst nannten. Sie fuhren oft in ihren Autos und Lieferwagen vorbei. Die Kinder winkten ihnen zu. Die prorussischen Kämpfer hatten dort einen Checkpoint aufgebaut, dahinter befanden sich ihre Stellungen, versteckt in einem Waldstück. Die Wälle der Schützengräben, auf denen sie ihre Waffen aufgebaut hatten, waren kaum sichtbar. Einen Kilometer weiter, hinter den Feldern, lag der Ort Marynka, unter ukrainischer Kontrolle. Beide Seiten feuerten aus Scharfschützengewehren, Panzerfäusten und Mörsern. Sie sahen ihr Ziel nicht. Sie schossen trotzdem. Oft trafen sie nicht. Die Bewohner hatten zu unterscheiden gelernt, wie nah oder fern ein Geschoss war, ob es von der eigenen Seite abgefeuert wurde (ungefährlich) oder ob es von den Ukrainern kam (gefährlich). Die Kinder wussten, was ein Schützenpanzerwagen war, sie wussten, was eine „Grad“-Rakete war und wie Landminen aussahen.

Banges Warten bei Kerzenlicht. Im Juli 2014 war der Krieg zu Julia nach Hause gekommen. Er hatte die Bewohner aus ihren Wohnungen in den Keller vertrieben. Nur auf den ersten Blick herrschte Chaos in dem nackten Betongewölbe. Julia erklärte mir die Ordnung. Der Keller, zu dem steile Stufen hinabführten, bestand aus mehreren Abteilen, die mit Wolldecken voneinander abgetrennt waren. In jedem „Zimmer“ hatte sich eine Familie häuslich eingerichtet. Ein Bett stand eng neben dem anderen, es waren Eisengestelle oder Holzplanken mit Matratzen darüber. Daneben lagen die wichtigsten Habseligkeiten, Fernseher, Wasserkocher, Kleidung. 40 Menschen fanden hier Unterschlupf, zwölf davon waren Kinder. Die Luft war feucht, aber nicht so drückend wie in anderen Bombenschutzkellern im Bezirk, in denen ich zuvor gewesen war.

Im Bunker zeigte Julia auf ein noch leeres Metallgestell in einem schmalen Seitenabteil in der Mitte des Gemäuers. Es würde mein Bett für die Nacht sein. Mir war mulmig zumute. Julia hatte mir geschildert, wie die Wände wackelten, wenn Geschosse in der Nähe einschlugen. Wie sie dann hier bei Kerzenlicht saßen, ohne Aussicht, den Keller verlassen zu können. Ein paar Tage zuvor war es ganz in der Nähe zu schweren Kämpfen gekommen und die Menschen in der Kosarew-Straße hatten tagsüber stundenlang im Bunker ausharren müssen. „Ich dachte, wir sterben“, sagte Julia. In solchen Momenten versuchten sich die Menschen mit Gesprächen abzulenken. Es klappte nicht immer.

Ich schob diese Aussichten schnell beiseite. Die Mädchen schliefen jede Nacht hier. „Ich mache dir später dein Bett“, sagte Julia. „Lass uns spielen.“ Draußen schien die Sonne. Die Vögel zwitscherten, die Katzen putzten ihr Fell im staubigen Hof. Früher war das Viertel ein Paradies für Kinder gewesen. Auf der Straße, die am Haus vorbeiführte, fuhren kaum Autos. Zwischen den niedrigen Wohnblöcken lagen Scheunen, Gärten und verwilderte Grünflächen, die zum Herumstreunen einluden. In den Holzschuppen hinter dem Wohnhaus hielten mehrere Bewohner Hühner und Tauben, auf der gegenüberliegenden Wiese grasten Ziegen. Der Kinderspielplatz lag fünf Minuten vom Haus entfernt, fünf Minuten in die andere Richtung befand sich ein von Schilf umrahmter Badeteich. Zu den Lieblingsspielen der Kinder zählten Verstecken und Fangen.

Jetzt erlaubten ihnen die Eltern nur noch, im Hof zu spielen. Der zeigte nach Norden und war durch das Wohnhaus relativ geschützt im Fall von Beschuss. Die Kinder spielten Fangen, doch das Spiel wollte nicht so recht in Gang kommen: Wirklich wegrennen konnte man im Hof nicht. Sie hüpften mit Springschnüren herum, die ihnen die „Verantwortungsvollen Bürger“ gebracht hatten, knüpften Armbänder und spielten das Spiel „Wer bin ich“, bei dem man sich mit Spucke Zettel auf die Stirn klebte, auf denen eine Bezeichnung stand, die man erraten musste. Die Bezeichnungen lauteten: Badeschlapfen, Erdbeere, Prinzessin, Wohnung, Keller. Die Tage zogen sich hin, die Stunden vergingen langsam. Immer wieder mussten sie sich etwas Neues einfallen lassen, um nicht von der Langeweile eingeholt zu werden. Wenn sie auf die Straßen gingen, waren die Eltern beunruhigt, das Herumstreifen in der Nachbarschaft war überhaupt verboten.

Wir schlenderten mit den anderen Kindern in den Hintergarten. Dort stand ein Kirschbaum. Die roten Kirschen waren süß und reif. „Ist bei euch Krieg?“, fragte mich der kleine Witalik. „Nein“, sagte ich. „Kruto!“, sagte Sabina. „Cool!“ „Der letzte Krieg bei uns war vor 70 Jahren“, sagte ich. „Der Große Vaterländische.“ „Der war bei uns auch“, sagte Sabina. „Da haben wir gegen die Faschisten gekämpft“, sagte Witalik. – „Ja, gegen uns.“ Witalik schaute mich verwirrt an. „Also, damals waren wir die Faschisten“, versuchte ich zu erklären. Mit der ukrainischen Armee auf der anderen Seite war es ein bisschen so wie mit den Faschisten, von denen die Kinder in der Schule und zu Hause viel gehört hatten. Solange der Feind abstrakt ist, ist die Sache einfach. Die Bewohner der Kosarew-Straße nannten die auf der anderen Seite ukropy. Ukrop bedeutet wörtlich Dill. Es war eine wenig schmeichelhafte Bezeichnung, eine Verballhornung von „Ukrainer“. Die Erwachsenen wollten nicht von den ukropy befreit werden, sagten sie. Die Soldaten seien „Okkupanten“ und sollten besser nach Hause gehen. Die Erwachsenen dachten nicht daran, ihre Behausungen zu verlassen, auch wenn diese an der Frontlinie lagen. Die kleinen Wohnungen waren alles, was sie hatten. Petrowskij war ihr Land, sie würden nicht weichen.

Es gibt im Russischen das Verb navjasivat'. Es bedeutet, jemandem etwas aufzudrängen, zu oktroyieren. Ich bekam es bei meinen Besuchen in der Kosarew-Straße häufig zu hören, wenn mich die Erwachsenen zu sich an den Tisch holten, um mir die Lage zu erklären. Es waren hitzige, laute, wodkatrunkene Gespräche, ein Stimmengewirr, das nur unterbrochen wurde, wenn wieder eine neue Speise auf den Tisch gestellt wurde. Ich war eine Westlerin und sollte zum Sprachrohr der Bewohner werden, eine mir zugedachte Rolle, die mich überforderte und zugleich ratlos machte. Ich wollte eine Geschichte über die Kinder schreiben, doch die Erwachsenen hatten mich „gekidnappt“. Ich hörte zu, nickte höflich und nippte weiter an meinem Wodkaglas.

Die Erwachsenen unterstützten die opoltschenzi. Julias und Sabinas Eltern hatten bei dem Referendum für die „Donezker Volksrepublik“ (DNR) gestimmt. Sie arbeiteten in den Bergwerken der Umgebung, in der Kläranlage und im Gaswerk. Sie verließen sich auf die Versprechen der Donezker Separatisten, dass ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben würden. Sie glaubten, dass es in der DNR möglich sei, autark von der Ukraine zu leben. Nun habe es endlich ein Ende mit der Bevormundung durch die Hauptstadt. Für ihr Leben am Existenzminimum, ihr Gerade-noch-Auskommen machten die Hausbewohner den bisherigen Machtdeal zwischen Politik und Oligarchie verantwortlich. Man konnte es ihnen schwer verübeln. Sie hatten in der Vergangenheit für Viktor Janukowitsch gestimmt; ein anderer als ein Donezker wäre für sie nicht in Frage gekommen. Doch nun war er weg, und es fühlte sich wie Verrat an. Von der DNR erhofften sie sich das, was die Ukraine ihnen vorenthalten hatte: Gerechtigkeit.


Sicher im Keller. Am späten Nachmittag fiel ein Schuss. Dann mehrere, eine ganze Salve. Die Eltern riefen die Kinder, sie sollten jetzt nur noch nahe dem Eingang zum Schutzkeller spielen. Aus der Ferne waren mehrere Detonationen zu hören. Mörser, sagten die Bewohner. Julia und Sabina schlugen vor, im Keller fernzusehen. Ich willigte ein. Die Mädchen hatten im Internet koreanische Filme entdeckt und begonnen, diese herunterzuladen. Nun waren sie süchtig danach. Es waren TV-Serien mit jungen Darstellern, die sie dank russischem Voice-Over verstehen konnten. Die Serien waren eine Mischung aus Horrorfilm und Romanze, es ging um Angst, Sehnsucht, Liebe – wie im richtigen Leben. Vor dem Fernseher entspannten sich die Gesichter der Mädchen, der Krieg blieb draußen.

Gegen Abend füllte sich der Bunker. Menschen kamen herabgestiegen mit Plastiktaschen und Limonadeflaschen in der Hand. Gedämpfte Stimmen zogen wie Rauchschwaden durch die Kellerräume. Die Bewohner bereiteten sich auf die Nachtruhe vor. Ehepaare lagen nebeneinander auf dem Bett und schauten Nachrichten im Fernsehen. Auf einem Bett lag ein Paar im Halbdunkel, zwei Körper ineinander verkeilt. Wir wandten den Blick ab und gingen eilig vorbei, um nicht zu stören. Um zehn Uhr war Schlafenszeit für die Kinder, auch da gab es strenge Regeln. Ein Licht nach dem anderen ging aus, bis nur noch zwei fahle Funzeln im Korridor brannten. Ich ließ mich auf dem Bett nieder, das Julia und Sabina mir bereitet hatten. Das Eisengestell hing etwas durch, aber sonst lag ich weich und warm. Hier im Gewölbe war von den Kämpfen nichts zu hören, der einzige Ort, wo sich die Bewohner der Kosarew-Straße sicher fühlten. Hier fanden sie endlich Ruhe, während tagsüber die Lage an der Front diskutiert wurde. Auch der Wodka half. Eine Frau sagte: „Solange ich meine hundert Gramm trinke, brauche ich keine Tabletten.“

Als wäre Frieden. Als ich aufwachte, war es im Keller genauso dunkel wie beim Einschlafen. Ich blickte auf die Uhr. Es war 7:30 Uhr. Ich rappelte mich auf und fand den Weg nach draußen. Dort war es taghell, die Vögel sangen und die Katzen lagen müßig im Hof. Julia und ihre Mutter Lena, eine Frau Mitte 30, saßen auf einer niedrigen Holzbank und blinzelten in die Sonne. In diesen Minuten in der Früh, wenn die anderen noch schliefen, waren Lena und Julia einfach eine Mutter und ihre Tochter, die sich über Dinge unterhielten, über die Mütter und Töchter eben reden: über das Mittagessen und wen sie am Nachmittag besuchen würden, über lästige Tanten und aufdringliche Burschen, übers Wäschewaschen und Duschen, und über Krieg und Angst, über das Heute und das Morgen.

Die Nacht war bis auf ein paar kleinere Gefechte, die man im Bunker nicht einmal gehört hatte, ruhig gewesen. Nach unruhigen Nächten war an einen normalen Tagesablauf nicht zu denken. Nach ruhigen Nächten wie der vergangenen begann der Tag, als wäre Frieden. Im vergangenen Jahr hatten sich Julia und ihre Mutter nur vier Monate gesehen, da Julia einige Zeit bei Verwandten auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet verbracht hatte. Sie hatte drei verschiedene Schulen besucht und nicht viel gelernt. Nun bestand sie darauf, im Herbst nicht mehr weggeschickt zu werden. In jenem bestimmten Tonfall eines Teenagers, der ahnen lässt, dass Diskutieren zwecklos ist, sagte Julia: „Ich bleibe hier, egal, was passiert.“ Ich fragte Lena, wie sich Julia in diesem ersten Kriegsjahr verändert habe. „Sie ist so groß geworden, größer als ich“, sagte sie und blickte nachdenklich auf ihre Tochter. „Und sie ist selbstständig geworden. Sie lässt sich nichts mehr sagen.“

Neu erschienen

Der Reportageband von „Presse“-Redakteurin Jutta Sommerbauer: „Die Ukraine im Krieg. Hinter den Frontlinien eines europäischen Konflikts“, Verlag Kremayr & Scheriau, 207 Seiten, 22 Euro.

Erstpräsentation am 17. 2. um 19 Uhr in der Buchhandlung Thalia, Mariahilfer Str. 99. Moderation: Cornelia Vospernik.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.