Totale Gewissheit gibt es nicht

Die Wiener Soziologin und Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny.
Die Wiener Soziologin und Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny.Die Presse
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Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny hat ein Plädoyer für die Ungewissheit verfasst. Ein Gespräch über Vertrauen in die Wissenschaft, Orakelknochen und die Macht des Zufalls.

Helga Nowotny, eine der bekanntesten Wissenschaftsforscherinnen Österreichs, ist hoch erfreut. Die „Financial Times“ hat ihr jüngstes Buch „The Cunning of Uncertainty“ („Die List der Ungewissheit“) unter die fünf besten Wissenschaftsbücher des Jahres 2015 gewählt. Darin beschreibt sie, wieso niemand die Zukunft vorhersehen kann und es nirgends, vor allem aber in der Wissenschaft, eine totale Gewissheit gibt – und warum das gar nicht so schlecht ist. Ein Gespräch.

Wie sind Sie auf das Thema Ihres Buches gestoßen?

Helga Nowotny: Meine langjährige Beschäftigung mit Wissenschaft hat mir gezeigt, wie gut sie mit Ungewissheit umgehen kann. Wissenschaftliche Verfahren sind darauf gerichtet, die Produktion von Wissen in sicheres Wissen zu verwandeln. Doch alles wissenschaftliche Wissen ist nur vorläufig. Es wird durch anderes, besseres Wissen ersetzt werden. In der Gesellschaft hingegen herrscht oft Angst vor Ungewissheit. Deswegen wird von der Wissenschaft erwartet, möglichst präzise Vorhersagen zu machen, ob etwa ein Stoff krebserregend ist oder wann es ein Mittel zur Heilung einer bestimmten Krankheit geben wird. Die Wissenschaft kann darauf nur in ganz seltenen Fällen eindeutige Antworten geben. Letztlich geht es um Wahrscheinlichkeiten. Es ist mir ein Anliegen, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu vermitteln.

Vertraut die Gesellschaft der Wissenschaft heute mehr als früher?

Die Wissenschaftler glauben immer, das Vertrauen nimmt ab. Ich sehe das nicht so dramatisch. Der Bildungsstandard ist heute viel höher, das wissenschaftliche Weltbild hat sich durchgesetzt.

Wie kann Wissenschaft Ungewissheit verringern und Vertrauen schaffen?

Indem sie offen und ehrlich sagt, dass es eine hundertprozentige Gewissheit, vielleicht abgesehen von den physikalischen Gesetzen, nicht gibt. Es ist wichtig, sich zurückzuhalten und nicht zu viel zu versprechen. Vertrauen und Versprechen gehören zusammen, denn in jedem Versprechen steckt auch Ungewissheit. Man weiß nicht, ob das Versprechen eingehalten wird. Ich sehe aber auch den Druck von Politik und Forschungsförderung auf die Wissenschaft, die auf vorher vereinbarte Ergebnisse pochen. Daher ist es mir wichtig, den politischen Entscheidungsträgern zu sagen, dass man in der Grundlagenforschung prinzipiell nicht im Vorhinein weiß, was genau und wann etwas herauskommen wird. Doch die Geschichte zeigt, es funktioniert.

Warum beschäftigen wir uns so sehr mit der Zukunft? Wäre es nicht sinnvoller, sich zu überlegen, wie wir flexibler auf Gegebenheiten reagieren können?

Das eine schließt das andere nicht aus. Natürlich gibt es gewisse Konstanten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird das Morgen auf dem Heute aufbauen. Doch gleichzeitig gibt es das Unerwartete, Brüche und völlig neue Entwicklungen. Dann kommt etwas hinzu, was ich als „List“ der Ungewissheit bezeichne. Sie kann uns positiv überraschen, weil sie uns neue Möglichkeiten zeigt und uns davor bewahrt, uns von der Angst einschränken zu lassen.

Um Ungewissheit zu überwinden, nutzen manche Menschen auch Mittel wie Astrologie und Wahrsagerei. Wie sehen Sie als Wissenschaftlerin diese Dinge?

Diese Suche nach Gewissheiten ist verständlich. Spuren davon finden sich in jeder Zivilisation. Im Buch gehe ich auf Orakelknochen als ein Beispiel ein. In China war es verbreitet, Schulterblätterknochen von Schafen oder Schildkröten in einem aufwendigen technischen Verfahren zu erhitzen und aus den aufgetretenen Rissen die Zukunft vorherzusagen. Diese Wahrsager waren gut ausgebildete technische Experten. Sie mussten jedoch auch das soziale System kennen, denn sie hatten den kaiserlichen Hof zu beraten. Das konnte eine riskante Sache sein, wenn die Voraussage nicht eintraf. Vorhersagen über die Zukunft sind daher immer von Ambivalenz gezeichnet. Sie lassen Spielraum für Interpretation.

Glauben Sie selbst an solche Orakel?

Ich finde es als soziales Phänomen interessant. Von der Astrologie brauchen wir nicht zu reden, sie hat sich überholt. Aber dass man versucht, Zeichen zu lesen, kann ich nachvollziehen, weil es auch mit der Rolle zu tun hat, die der Zufall in unserem Leben spielt. Jeder von uns ist das Resultat einer zufälligen Mischung der Gene unserer Eltern. Es ist der Zufall, der entscheidet, wo wir geboren werden. Das Leben verläuft anders, wenn man in Bangladesch oder in der Sahelzone auf die Welt kommt. Selbst wenn man alles planen will, der Zufall macht einem manchmal einen Strich durch die Rechnung.

So ist das auch im Labor.

Genau. In der Wissenschaft sprechen wir dann von Serendipity (glücklicher Zufall). Man stößt auf ein Phänomen, das man weder gesucht noch erwartet hat. Doch man erkennt dessen Bedeutung für die Fragen, die man lösen möchte. Das spielt eine große Rolle in den Laborwissenschaften.

Wie passen Vertrauen und Zufall zusammen?

Sich der Rolle des Zufalls bewusst zu sein, hilft einem, mit Ungewissheit besser umzugehen. Es gibt Situationen, in denen man vor einer schwierigen Entscheidung steht. Dann besteht die Möglichkeit, es einfach darauf ankommen zu lassen. Das heißt, man delegiert die Entscheidung an den Zufall. Das wird manchmal als große Erleichterung empfunden.

Steckbrief

Helga Nowotny
(1937 in Wien) ist Soziologin und Wissenschaftsforscherin. Sie absolvierte ihr Doktorat in Rechtswissenschaften an der Universität Wien und ist Ph. D. in Soziologie der Columbia (NY).

Sie war von 1996 bis zu ihrer Emeritierung 2002 Professorin für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich und ist eine der Gründerinnen und Vizepräsidentin des Europäischen Forschungsrates (European Research Council). Von 2010 bis 2013 war sie dessen Präsidentin.

Buch: Das Buch „The Cunning of Uncertainty“ (Polity Press) erschien 2015.

Veranstaltungstipp: Unter dem Titel „Die List der Ungewissheit“ diskutiert Helga Nowotny mit dem Philosophen Philipp Blom beim Alpbach Talk am 9. Februar, 19 Uhr, im Marmorsaal, Unteres Belvedere, Rennweg 6, 1030 Wien. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung aber erforderlich. Programm: ww.alpbach.org/uncertainty

Forschungsrat

Helga Nowotny ist Mitgründerin und Vizepräsidentin und war Präsidentin des Europäischen Forschungsrates. Der 2007 gegründete Finanzierungsfonds für Grundlagenforschung verfügt über einen Topf von jährlich 1,6 Milliarden Euro und finanziert Grundlagenforschung, bisher erhielten über 5000 Forscher aus verschiedensten Bereichen eine Förderung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2016)

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