Michael Ignatieff: "Schreiben ist kein Trost fürs Verlieren"

April 17, 2011: Liberal Leader Michael Ignatieff at a town hall discussion in Victoria, BC
April 17, 2011: Liberal Leader Michael Ignatieff at a town hall discussion in Victoria, BCGeorges Alexandar/Flickr: Victoria, BC Liberal Town Hall Forum public libéral
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Im Jahr 2005 gab Michael Ignatieff eine ruhmvolle Karriere als Harvard-Professor auf und wollte Kanadas Premierminister werden. Nach sechs Jahren war er damit gescheitert.

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Das Scheitern ist ein großer Lehrer, und ich habe all seine Lektionen gelernt.“ Was war die wichtigste?

Michael Ignatieff: Man muss vorher wissen, wer man ist, wieso man Politik machen will und für wen. Das habe ich nicht ernst genug befolgt. Ich wurde gebeten zu kandidieren. Ich denke, ich wollte es für mich selbst. Ich habe lange Zeit gebraucht, um das einzusehen. Ich bin ein akademisch gebildeter Intellektueller aus der Mittelschicht, und ich hatte enorme Probleme, die Menschen zu erreichen, weil sie dachten: Der macht das nur für sich selbst, nicht für uns. Die Negativkampagnen gegen mich griffen genau diesen Punkt auf. Das ist das Drama: Ein großer Politiker kann viele Schwächen haben, aber die Menschen werden ihm verzeihen, wenn sie das einfache Gefühl haben, dass er für sie einsteht.

Sie erwähnen in Ihrem Buch die Bedeutung der Fortuna – dass man als Politiker ein Geschick für den Moment braucht.

Ja. Große Politiker beherrschen die Zeit. Politik ist nicht nur die Kunst des Möglichen, sondern die Kunst des jetzt Möglichen. Machiavelli hat gesagt: Wer die Bedeutung von Fortuna nicht versteht, also den Umstand, dass man den Fluss der Zeit nicht kontrollieren kann, der ist politisch naiv. Es ist eine Form der Arroganz zu glauben, dass alles gemäß des eigenen Plans geschieht.

Sie sprechen auch den Konflikt von Instinkt und Intellekt in der Politik an. Wenn man sich das politische Geschehen in vielen Ländern ansieht, hat man den Eindruck, dass der Kopf in neun von zehn Fällen gegen den Bauch verliert. Ist Politik nur ein Spiel für Opportunisten, die von ihrem Reptilienhirn gesteuert werden?

Ein gewisses Maß an Reptilienhirn ist in der Politik ziemlich nützlich – also eine Aggressivität, ein Bauchgefühl. Ich bin sehr beeindruckt davon, wie unglaublich geistesgegenwärtig ein guter Politiker ist. Nichts, was ich in meinem Leben gemacht habe, war intellektuell so anspruchsvoll wie Politik. Den Leuten ist das nicht bewusst. Man muss eine unglaubliche Bandbreite an Themen beherrschen, viel mehr, als es jeder Akademiker oder Journalist tut. Denn man weiß nie, aus welcher Richtung die nächste Frage kommen wird.

Hat sich Ihr Blick auf Politiker geändert?

Seltsamerweise habe ich die Politik mit mehr Respekt für die guten Politiker verlassen, als ich ihn anfangs hatte. Niemand mag Politiker, jeder begegnet ihnen mit Zynismus – aber ein geschickter, ehrlicher Politiker ist ein großer Segen für ein Land. Ihr Land ist erfolgreich und wohlhabend, weil sie seit 1955 von zumindest halbwegs anständigen Politikern regiert wurden.

Was gehört noch zu einem guten Politiker?

Verschwiegenheit. Ich trete nicht für das Lügen ein, aber man muss mit manchen Details sparsam umgehen. Tony Blair hat das wunderbar auf den Punkt gebracht: Du sitzt ruhig und gelassen an einem Konferenztisch, während die Journalisten nicht sehen, dass deine Füße unter dem Tisch wie wahnsinnig in die Pedale treten, um das Fahrrad aufrecht zu halten. Das ist eine Kunst, Gelassenheit und Zuversicht auszustrahlen, während hinter dir die eigene Partei vor lauter Streitereien die Möbel kurz und klein schlägt. Ich hatte kein Pokerface. Ich konnte innere Beunruhigung nicht maskieren . . .

. . . die Politik der ruhigen Hand, von der der deutsche Kanzler Gerhard Schröder sprach.

Ja. Denn in einer ständigen Folge von Krisen, in der alle die Nerven verlieren und jeder Journalist sagt, dass der Kerl da abstürzt, ist die ruhige, entschiedene Hand eine Gabe. Aber niemand weiß, dass man innerlich zittert.

Wie soll eine Politikerin wie Angela Merkel mit der Flüchtlingskrise umgehen? Es gibt gute moralische, rechtliche, ökonomische Gründe, diese Menschen aufzunehmen. Aber wenn eine Mehrheit der Bürger sagt, es sind zu viele, hat man ein Dilemma.

Ein Politiker, der die Kontrolle über die Grenzen seines Landes verliert, ist ein Politiker, der die Macht verliert. In Deutschland gibt es das Gefühl, dass Merkel vielleicht nicht unbedingt das Falsche getan hat, aber dass ihr die Kontrolle entglitten ist. Diese muss sie wiedererlangen. Und sie hat nur eine begrenzte Zeit dafür. Sie kann zudem keine falschen Lösungen versprechen: Weder Europa noch Amerika wird ihr helfen, sie ist allein. Es wäre aber falsch und würde ihr politisches Erbe beschädigen, wenn sie jetzt sagen würde: Oh, das war alles ein großer Fehler. In der Politik ist Addition möglich, Subtraktion aber sehr schwierig. Es ist möglich voranzuschreiten, die Umkehr aber ist extrem schwierig.

Trifft man Politiker, ist man erstaunt, wie umgänglich sie sind – anders, als sie in den Medien wirken. Sie sagen: Politik muss körperlich bleiben, weil Vertrauen körperlich ist. Wie funktioniert das im Zeitalter von Facebook und Twitter?

Ich habe es geliebt, mit ein paar Leuten in einem Zimmer zusammenzusitzen und sich einfach nur ihre Probleme anzuhören, ohne Kameras und so. Das öffentliche Spiel hingegen ist viel schwieriger. Wäre ich jetzt noch in der Politik, wäre das ein ganz anderes Interview. Meine Antworten wären viel kürzer, und ich würde ständig daran denken, wie Sie mich hineinlegen. Das ist nicht persönlich. Ich würde mich ständig fragen: Wie wird das auf dem Titelblatt aussehen? Ich habe einige Male bloß zwei Sätze zu viel gesagt – und dann sechs Monate damit verbracht, den Scherbenhaufen aufzukehren. Man legt also eine Rüstung an, schlüpft in eine Rolle, wägt ständig Risken ab, und dann schrumpft man die Sprache ein, bis sie immer weniger aussagt und mehr zu einer Botschaft wird, die man wiederholt. Ich habe das gehasst, denn ich habe stets gesagt und geschrieben, was ich mir denke.

Sind Donald Trump und Bernie Sanders darum so beliebt, weil sie offensichtlich ohne Hemmungen sagen, was sie denken?

Zumindest ohne offenkundige Hemmungen. Der Trick ist, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne sich selbst ins Knie zu schießen. Ich wurde in der Öffentlichkeit immer vorsichtiger. Nach einiger Zeit erstickt einen das, und die Maske wird das öffentliche Gesicht. Die großen Politiker schaffen es, humorvoll-ironisch zu bleiben, ohne ihre Karriere zu beenden.

Für viele Menschen sieht es so aus, als würden sie seit Jahrzehnten von denselben Politikern regiert, und wenn diese ausnahmsweise eine Wahl verlieren, findet sich stets ein gut bezahlter Versorgungsposten.

Es gibt im gesamten Westen ein sehr tiefes Gefühl der Entfremdung von der politischen Klasse. Eine Erklärung dafür ist, dass die Leute mit Anfang 20 direkt in die politischen Stäbe wechseln und nie etwas anderes machen. Diese Leute sind im engsten Wortsinn eine politische Klasse, die bloß eine Karriere verfolgt. Eine weitere Erklärung sind der endlose Nachrichtenzyklus und die sozialen Medien. Paradoxerweise verringert mehr Öffentlichkeit die Legitimität der Politiker. Erfolgreiche Politiker rationieren ihre öffentlichen Auftritte sehr streng und sagen so wenig wie möglich. Sie wissen nämlich, dass sie ihr Kapital verschwenden. Je sichtbarer man ist, desto mehr Verachtung ruft man hervor. Darum ist man ständig auf der Hut. Und das produziert diese erbärmlichen Figuren, die nie sagen, was sie meinen.

Kein schöner Anblick.

Die Menschen verabscheuen diese Art von politischer Klasse, und ich denke, zu Recht. Ich möchte von jemandem vertreten werden, der weiß, was es heißt, Gehälter zu zahlen, der sich wegen der Insolvenz sorgt, eine Familie gegründet und Erfahrung in internationalen Angelegenheiten hat – und es sich leisten kann zu verlieren. Denn ein Grund dafür, dass die Politik so ängstlich ist, liegt darin, dass die Leute nirgendwohin können, wenn sie verlieren. Darum haben sie Panik vor dem Verlieren. In politischen Systemen mit Verhältniswahlrecht führt das dazu, dass die Politiker einzig ihren Parteien dienen – ein kompletter Riss zwischen Öffentlichkeit und politischer Klasse.

Sie sind nicht Premierminister von Kanada geworden – aber gewissermaßen haben Sie als Politikwissenschaftler das letzte Wort. Cicero, Machiavelli, Burke, de Tocqueville, Weber: allesamt gescheiterte Politiker, die die Geschichte des politischen Denkens geschrieben haben.

Schreiben ist kein Trost fürs Verlieren. Machiavelli hat das größte Buch über die Politik geschrieben, aber das hat den Schmerz kaum gelindert, seinen Posten verloren zu haben und gefoltert worden zu sein. Max Weber wäre gern Mitglied des ersten Weimarer Parlaments gewesen, hat aber kein Mandat bekommen. Und ich wäre viel lieber Premierminister von Kanada geworden.

Herr Ignatieff, darf man Sie auch fragen...


1. . . was Ihr Nachfolger Justin Trudeau hat, das Ihnen fehlte, um Premierminister zu werden?

Klar. Er ist 25 Jahre jünger und heißt Trudeau. Das meine ich nicht bösartig. Er hat einen wirklich guten Wahlkampf geführt und verdient, Premierminister zu sein. Darüber bin ich wirklich froh.


2. . . ob Sie nach Ihrer Niederlage eine Blockhütte gebaut haben, wie es Ihnen ein Freund riet?

Nein. Aber meine Frau und ich haben ein kleines Haus am Balaton, ein stilles Paradies, wo ich quasi der Dorftrottel bin, weil ich kein Ungarisch spreche.


3. . . was gewesen wäre, hätte Ihr Großvater nicht vor den Bolschewiken fliehen müssen?

Ich wäre heute Russe. Meine Großeltern waren russische Adelige, die in den 1920er-Jahren mit Nansen-Pässen für Staatenlose reisten. Ich kenne nichts Verzweifelteres als die Fotos in diesen Pässen: den Anblick von eigenen Familienmitgliedern, die Erschöpfung, Flüchtling zu sein.

Steckbrief

1947
Geburt in Toronto. Vater George war Diplomat und am Plan für eine Friedenstruppe in Suez beteiligt, für die Premierminister Lester Pearson 1957 den Friedensnobelpreis erhielt. Sein Großvater, Graf Pavel Ignatjew, war der letzte zaristische Bildungsminister.

1976–2005
Hochrangige akademische Posten an der University of British Columbia, in Cambridge, an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und in Harvard.

2005–2011
Rückkehr nach Kanada, um als Vorsitzender der Liberal Party Premierminister zu werden. 2009 bis 2011 Oppositionsführer.

2013
Rückkehr nach Harvard. Veröffentlichung von „Fire and Ashes: Success and Failure in Politics“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2016)

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