Árpád Schilling: "Viktor Orbán ist Putins treuer Lehrling!"

„Ungarns Spitäler verrotten, die Schulen fallen auseinander!“ Árpád Schilling bei den Proben im Arsenal.
„Ungarns Spitäler verrotten, die Schulen fallen auseinander!“ Árpád Schilling bei den Proben im Arsenal.Die Presse/Clemens Fabry
  • Drucken

"Die Politik infiltriert die Gesellschaft mit Angst und Rachsucht", sagt Regisseur Árpád Schilling, der derzeit im Wiener Akademietheater inszeniert. Schilling überlegt sich, seine Heimat zu verlassen.

Am 25. Mai zeigen Sie im Akademietheater die Uraufführung „Eiswind“ von Èva Zabezsinszkij und Ihnen. Worum geht es?

Árpád Schilling: In „Eiswind“ werden Menschen in einen geschlossenen Raum im Wald hineingezwungen. Sie haben Angst, die Angst verändert die Beziehungen und holt das Schlimmste aus diesen Leuten heraus.

Gibt es literarische Vorbilder für das Stück?

Es gibt viele Vorbilder, auch ungarische. Zum Beispiel „Die Familie Tót“ von István Örkény aus den 1960er-Jahren, eine Satire. Man sieht hier eine aggressive Figur, einen Major, der das Leben einer Familie völlig auf den Kopf stellt. Ein weiterer Bezugspunkt für unsere Arbeit war der Film „Das weiße Band“ von Michael Haneke. Auch Horváths Charaktere sind wichtig für uns. Es ist verblüffend, wie wenig sich die Attitüde der Mitteleuropäer in den vergangenen 100 Jahren geändert hat.

Ich glaube, jetzt übertreiben Sie.

Ich sehe, dass Ungarn für viele in Europa zu einer Art Modell geworden ist. Man sperrt sich ein, man baut Mauern, man sucht den Feind, man betont das Fremde. Die Politik infiltriert die Gesellschaft mit Angst und Rachsucht. Die Flüchtlings- und die Wirtschaftskrise haben diese Tendenzen verschärft. Toleranz, Solidarität, Multikulturalität sind zu negativen Worten geworden.

Wie geht es Ihrer Truppe Krétakör? Das heißt Kreidekreis nach Bert Brechts Stück.

Diese Stiftung wurde gegründet, um die Verbreitung der Ausübung der Demokratie zu fördern. Wir organisieren Projekte für Schüler, Diskussionsforen und Demonstrationen. Daneben publiziere ich zu politischen Fragen. Die ungarische Regierung erstickt die gesellschaftlich aktiven und demokratisch engagierten zivilen Stiftungen.

Wie funktioniert das?

Eine der Methoden ist, dass die regierungstreuen Medien diese Organisationen als ausländische Agenten darstellen und sich dadurch die öffentliche Meinung gegen sie wendet. Eine andere Vorgehensweise ist, dass eine Steuerprüfung stattfindet. Bei uns dauert die schon eineinhalb Jahre! Die Untersuchung wird auch auf Organisationen ausgedehnt, die mit uns in Verbindung waren. Dadurch wollen unsere Partner nicht mehr mit uns kooperieren. Während unsere Stiftung mit ihrem kleinen Budget sekkiert wird, verabschiedet die Regierung ein Gesetz, mit dessen Hilfe die Ungarische Nationalbank Euromilliarden aus öffentlichen Geldern über falsche Stiftungen ihren Freunden zukommen lässt.

Was verbindet Sie noch mit Ungarn?

Ich habe die Geschichte seit dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung des Ostens erlebt. Das ist mein Leben. Ich habe woanders Arbeit, aber ich bin dort nicht zu Hause. Ich fahre hin und her. Was ich nicht will, ist, dass meine Kinder Opfer des gleichen Teufelskreises werden wie ich und in einer ewigen Spaltung leben müssen.

Ich finde, Ministerpräsident Viktor Orbán kommt im Fernsehen ziemlich ehrlich, authentisch und sogar modern rüber.

Er versteht viel von einfachen Botschaften. Tatsache ist jedoch, dass die ungarische Wirtschaft von EU-Förderungen lebt und trotzdem eine der schwächsten in Europa ist. Ein Drittel der Bevölkerung vegetiert unter der Armutsgrenze. Spitäler verrotten, Schulen fallen auseinander. Es gibt immer weniger Ärzte und Lehrer. Orbán hat ein System ausgebaut, in dem alles und jeder von ihm abhängig ist, auch die katholische Kirche, die für die staatliche Apanage bereit ist, die christlichen Werte zu verraten.

Was meinen Sie damit?

Papst Franziskus tritt für die Aufnahme von Flüchtlingen ein. Der ungarische Kardinal Péter Erdö sagte, wenn die ungarische katholische Kirche Flüchtlingen hilft, ist das ein Gesetzesverstoß. Orbán hat uns eine konfuse Welt voller Widersprüche beschert.

Zuwanderung ist ein großes Thema, das viele Leute beschäftigt, auch abseits der Ideologien. Es geht um Wirtschaft, Werte.

Sicher ist: Gegen Terrorismus kann man nicht mit Mauern vorgehen, sondern nur mit internationaler Zusammenarbeit und Spitzentechnologie.

Ungarn war einer der Vorreiter der Marktwirtschaft. Haben die Leute jetzt resigniert?

Die politische Elite hat Fehler gemacht, etwa in der Privatisierung. Viele staatliche Firmen kamen in ausländische Hände oder in jene von Oligarchen. Milliarden wurden an der Allgemeinheit vorbei Privaten zugeschoben. In Ungarn sind politische und wirtschaftliche Macht vereint, das ist übel. Orbán ist Putins treuer Lehrling: Beherrsche die Nachrichten, belohne deine Freunde und erhalte den Schein des permanenten Krieges aufrecht.

Was war für Sie politisch, geistig prägend?

Die Kontrolle der Macht durch mutige und autonome Staatsbürger. Schon die Schüler müssen ihre Umgebung gemeinsam formen und Verantwortung tragen: Wie das Schulsystem, so die Gesellschaft. Je weniger Geld und Interesse der Allgemeinbildung zukommt, desto schwächer und ausgelieferter sind die Menschen der Macht.

Ungarn war in seiner Geschichte selten frei.

Das stimmt. Die Ungarn hatten wenig Zeit, die Mechanismen der Demokratie kennenzulernen. Für solche Leute heißt Demokratie: Ich kann diesen Menschen da oben nicht mehr ertragen, jetzt soll ein anderer kommen. Auch meine Eltern glauben nicht, dass in einer Demokratie die Menschen auf die Straße gehen können oder müssen, sobald man ihre Rechte schwerwiegend verletzt hat. Für sie heißt Demonstrieren bloß: Probleme machen.

Wie alt sind Ihre Kinder?

Meine Tochter ist sieben Jahre alt, mein Sohn ist zweieinhalb.

Was verbieten Sie Ihren Kindern unbedingt?

Mit der Faust ins Gesicht schlagen, das ist absolut verboten. Jeder hat mal ein Problem, das in einer Rauferei enden kann. Aber man muss wissen: Wo beginnen Schmerz, Demütigung, Rache?

Bei den Kindern sieht man, dass der Mensch von Natur aus nicht gut ist.

Aber er ist auch nicht von Grund auf böse. Es kommt eben vor, dass er Dummheiten macht. Und es ist sehr schwer, sich zu entschuldigen. Das ist sehr wichtig. Das sage ich auch meinen Kindern. Ihr müsst nicht superklug sein, aber man muss ein Problem erkennen und sofort reagieren. Politik beginnt in der Familie. Sich Entschuldigen, das üben wir. Das hilft beim Zusammenleben. Kränkung und Schmerz werden dadurch nicht aufbewahrt. In der ungarischen Gesellschaft und auch in der europäischen gibt es viel Kränkung und Schmerz, das wird alles geschluckt und zurückgehalten. Das macht wütend und krank.

Wenn Orbán weg wäre, wären die Ungarn ganz normale Europäer? Was meinen Sie?

Orbán baut seine Ideologie auf der dunklen Seite der Ungarn auf. Und es ist nicht nur die dunkle Seite der Ungarn. Angst, Rache, Kränkung, Aggression gibt es auch woanders. Daher müssen kluge Menschen in der Dunkelheit mit einer Kerze stehen und gegen die Katastrophe dieser neuen Mauern kämpfen. Das ist schwer. Ich wollte meine Tochter in eine staatliche Schule in Ungarn geben. Die Lehrerin hat den versammelten Eltern erklärt, der durch die Regierung angeordnete Lehrstoff sei problematisch. Aber sie schließe die Tür und lehre, woran sie glaube. Den gleichen Satz hat ein Lehrer vor 30 Jahren meiner Mutter gesagt. Diese Doppelzüngigkeiten will ich nicht an meine Kinder weitergeben.

Wie wirkt sich das derzeitige ungarische Regime auf die Kultur aus?

Dem Budapester Festivalorchester, das Weltrang hat, hat der Bürgermeister von Budapest die Subventionen drastisch gekürzt. Iván Fischer, der Leitende Dirigent, hat sich gewehrt. Der Bürgermeister hat gemeint, dass es besser für Fischer wäre, keine Hetze zu betreiben. Sollte er nicht aufhören, würde den Musikern auch noch die verbliebene Summe weggenommen. Außerdem müssten sie sich keine Sorgen machen, da sie ja von den amerikanischen Juden unterstützt würden. Darauf haben die anderen Orchester, anstatt Solidarität zu zeigen, sich um die Summe, die gekürzt wurde, beworben. Unfassbar! Die derzeitige Attitüde der ungarischen Politik schadet der ungarischen Kultur bedeutend. Und hier denke ich, wenn ich von Kultur rede, nicht nur an die Künste. Hier denke ich auch an die Sprache, das allgemeine Verhalten, die Vergangenheitsbewältigung, die Zukunft. Ich fürchte, dass diese sehr erfolgreiche politische Haltung nicht ohne Nachahmer in der Europäischen Union bleiben wird.

Herr Schilling, darf man Sie auch fragen...


1. . . ob Sie daran denken, Ihre Heimat Ungarn zu verlassen und im Westen zu leben?

Natürlich denke ich daran wegzugehen. In den vergangenen Jahren haben eine halbe Million Ungarn das Land verlassen. Aber ich kann Ungarn nicht einfach vergessen. Außerdem ist meine Familie dort. Und: Wenn alle flüchten, bleiben nur die Faschisten übrig.


2. . . ob Sie sich schon entschieden haben, wo Sie Ihre Kinder zur Schule schicken?

Meine Tochter geht in eine französische Privatschule.


3. . . ob Sie Angst haben und sich angesichts der Repressionen des Regimes als Dissident fühlen?

Künstler aus meiner Generation aus anderen Ländern, die erfolgreich sind, bekommen Führungspositionen und Auszeichnungen in Europa. Ihre Heimat ist stolz auf sie. Bei mir ist die offizielle Meinung, es ist besser, ich bin nicht da. Diese Diskriminierung bereitet mir Schmerz und lässt mich verzweifeln.

Steckbrief

1974
Árpád Schilling wird in Cegléd/Ungarn geboren. Mit 17 Jahren wird er Schauspieler, studiert aber dann Regie.

1995
Schilling gründet die Stiftung Krétakör, sein Theater ist national und international erfolgreich. Schillings Spezialität sind Aufführungen ohne Dekor, ganz auf wenige Darsteller konzentriert.

2005
Krétakör gastiert mit Schillings Inszenierung von Tschechows „Die Möwe“ bei den Wiener Festwochen. Er zeigt an der Berliner Schaubühne Jerofejews „Walpurgisnacht“ und am Mailänder Piccolo Teatro „Richard III.“

2008
Schilling spielt „Hamlet3 “ mit nur drei Darstellern im Wiener Kasino am Schwarzenbergplatz.

2014
„Faust“ (Berlioz) im Theater Basel, „Rigoletto“ an der Bayerischen Staatsoper in München, dort zuletzt Janáčeks „Die Sache Makropulos“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.