Seher Çakir: "In Wahrheit sind wir mitten im Krieg"

„Ich fürchte, die Todesstrafe in der Türkei wird kommen“, sagt die Autorin Seher Çakir.
„Ich fürchte, die Todesstrafe in der Türkei wird kommen“, sagt die Autorin Seher Çakir.Christine Pichler
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"Wir sehen tatenlos zu, wie ein sozusagen demokratisches Land in die Diktatur abstürzt", sagt die türkisch-österreichische Autorin Seher Çakir. Sie selbst fährt nicht mehr in ihr Geburtsland.

Wie beurteilen Sie die jüngsten Entwicklungen in der Türkei?

Seher Çakir: Ich bin überrascht von der Brutalität der Menschen. Es ist traurig mit ansehen zu müssen, dass Menschen aus der Weltgeschichte nichts gelernt haben. Ich bin auch entsetzt über die Hörigkeit der Menschen. Aussagen wie, „Sag, wir sollen sterben, wir sterben! Sag, wir sollen töten, wir töten!“ oder „Wer den Kopf erhebt, gehört geköpft“ sind schockierend. Erdo-ğan „überlegt“, die Todesstrafe einzuführen. Ich fürchte, sie wird kommen!

Vom Schaden für die Wirtschaft durch den Putsch und den Ausnahmezustand ist jetzt viel die Rede. Aber was bedeutet die Lage für die Intellektuellen und Künstler?

Ich finde es schlimm, dass wir tatenlos zusehen, wie ein sozusagen demokratisches Land in die Diktatur abstürzt. Es wird eine Fluchtwelle geben. Aber die Meinungsfreiheit ist ja schon lang abgeschafft. Die AKP mischt sich so stark ins Leben der Menschen ein, das können wir uns nicht vorstellen. Aussagen wie „Eine Frau, die keine Kinder bekommt, ist eine halbe Frau“ – was soll das? Ist es die Aufgabe eines Präsidenten zu kontrollieren, was die Bevölkerung im Schlafzimmer treibt?

Was bedeuten die Ereignisse für die türkische Community in Europa? Es gab Demonstrationen von Erdoğan-Anhängern.

Die Menschen, die aus der Türkei nach Europa kommen, haben ganz verschiedene Hintergründe. Von einer Community kann man nicht sprechen. Es gibt Linke, Rechte, Aleviten, Kurden, Armenier. Menschen, die Präsident Erdoğan die Treue halten, sollten sich überlegen, ob sie im richtigen Land leben. Laut der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ wurde ein in Frankreich lebender Mann mit türkischen Wurzeln bei seinem Heimaturlaub verhaftet, weil er sich in sozialen Medien kritisch über Erdoğan geäußert hat.

Warum hat sich die Lage so verschärft?

Ich habe das Gefühl, dass momentan auf der Welt der Ruf nach einem starken Mann, einem starken Führer ertönt. Ich weiß nicht, warum die Menschen das brauchen. Ein Mensch ist ein Mensch. Aber jeder glaubt, besser als der andere zu sein. Jeder denkt, sein Glaube, seine Nation seien besser als andere. Wir sind doch nur so kurz auf diesem Planeten – und diese kurze Zeit sollte man friedlich verbringen.

Wie wird es weitergehen?

Ich fürchte, dass es einen großen Crash geben wird, einen wirtschaftlichen Zusammenbruch oder einen Krieg größeren Ausmaßes. In Wahrheit sind wir ja schon mitten drin – im Krieg.

Fahren Sie jetzt noch in die Türkei?

Nein. Ich bin im Sommer immer gern in die Türkei geflogen: Sonne, Strand, Meer, gutes Essen. Die Zeit in der Türkei habe ich immer als sehr inspirativ erlebt. Aber die Situation gefällt mir momentan überhaupt nicht. Ich fühle mich nicht mehr frei und sicher in dem Land, in dem ich geboren wurde. Meine Cousine und ich wurden im Flugzeug nach Antalya von einem fremden Mann angeflegelt, weil wir uns erlaubt haben, Alkohol zu trinken.

Wie wird sich das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU weiterentwickeln?

Das Regime in der Türkei verletzt Menschenrechte. Der ganze Osten gleicht einem Schlachtfeld, mit der Begründung, dass Terroristen bekämpft werden müssen. Ich verstehe nicht, dass die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, mit jemandem wie Präsident Erdoğan verhandelt, um ein paar Flüchtlinge weniger im Land zu haben.

Die EU sucht Wege aus der Flüchtlingskrise.

Mit dem Geld, das die EU Erdoğan gibt, könnte man die Flüchtlinge in sehr kurzer Zeit in Europa integrieren und ihnen Wohnmöglichkeiten gewähren. Wenn Europa die Flüchtlinge nicht will, muss Europa dafür sorgen, dass der Krieg aufhört. Es muss auch aufhören, Waffen zu verkaufen. Gäbe es keinen Krieg, müssten Menschen nicht ihre Heimat verlassen. Die Flüchtlinge kommen nicht zum Spaß hierher.

Die Schuld am Krieg trägt nicht Europa, sondern die Länder, die ihn angefangen haben bzw. ihre Führer, finde ich.

Ich sage nicht, dass Europa allein an der Krise schuld ist. Aber es muss eine gemeinsame Anstrengung geben, damit der Krieg in Syrien endet.

Wie haben Sie begonnen zu schreiben?

Ich bin mit den Geschichten meiner Großmutter aufgewachsen. Sie war eine fantastische Erzählerin. Ihre Geschichten und erfundene habe ich dann meiner Schwester aufgetischt. In Österreich habe ich meine Erlebnisse auf Deutsch niedergeschrieben, obwohl ich die Sprache noch nicht so gut konnte. Ich habe mich sogar in Mundart versucht, weil alle um mich herum wienerisch gesprochen haben.

Musste Ihre Familie aus der Türkei fliehen?

Mein Vater war ein Linker. Links zu sein war nicht gern gesehen. Das ist noch immer so. In der Türkei konnten meine Eltern nicht leben. Und wir Kinder sollten eine bessere Zukunft haben. Daher haben sie sich entschieden, nach Österreich zu kommen. In der Türkei war mein Vater Krankenpfleger. Hier ist er Taxi gefahren.

War Ihre Mutter auch berufstätig?

Immer. Sie ist Schneiderin. Die Arbeitserlaubnis hat sie als Hilfsarbeiterin in einer Fischkonservenfabrik in Niederösterreich erhalten. Die Fabrik hat wenig bezahlt, aber die Arbeitspapiere hat sie dafür umso leichter beschaffen können, da diese Arbeit von niemandem gern gemacht wurde. Um vier oder fünf in der Früh ist meine Mutter im Bus zur Arbeit gefahren. Es gab wenige inländische Arbeiter und Arbeiterinnen dort. Meine Eltern haben rund um die Uhr gehackelt.

Sie haben eine große Familie. Mögen Sie das? Haben Sie Kontakt zu Angehörigen?

Meine Großfamilie ist auf der ganzen Welt verstreut: Von Australien bis Holland. Ich bin mit meiner Kernfamilie sehr verbunden. Mit den Leuten, die hier sind und die ticken wie ich.

Und wie ticken Sie?

Weltbürgerisch, gegen Zwänge, gegen Obrigkeiten, antinationalistisch, atheistisch, antihomophob, antirassistisch, antifaschistisch, antiautoritär.

Kann man überhaupt glücklich sein?

Was ist Glück? Man verwechselt glücklich sein mit Zufriedenheit. Es gibt Menschen, denen nichts fehlt – und die trotzdem unglücklich sind. Andere sind glücklich, wenn sie eine Blume riechen oder ein Gemälde anschauen. Glück ist relativ. Man kann glücklich sein, jeder auf seine Art und Weise.

Sind Ihre Erzählungen auch Märchen?

Manchmal. Oder Metaphern, aber nicht immer. In der Geschichte „Die mit Rosen“ lieben einander zwei Frauen im tiefsten Anatolien. Gleichgeschlechtliche Liebe darf dort nicht sein. Das muss man sich einmal vorstellen: Man entdeckt, man hat diese Bedürfnisse, und kann sie nicht leben.

Was sind Ihre Erfahrungen mit Liebe, Ehe?

Ehe hat viel mit dem Gedanken des Besitzes zu tun. Man kann einen anderen Menschen nicht besitzen. Liebe ist eine Hormonsache, etwas Chemisches. Es geht um Reproduktion. Um Instinkte. Natürlich gehört zur Liebe Anerkennung und Respekt. Man möchte die schönen und die schlechten Momente, sein Leben mit jemandem teilen – und bei manchen funktioniert das auch bis zum Tod. Aber es ist selten. Und es wird immer seltener.

Sie haben einen Brotjob in einer Beratungsstelle für Migranten. Was erleben Sie da?

Wir helfen Migranten dabei, in Österreich Fuß zu fassen. Man bekommt schlimme Geschichten zu hören, etwa von Frauen, die brutalst von ihren Männern misshandelt wurden.

Wie sehen Sie die Politik in Österreich?

Ich habe Albträume. Kurz vor der letzten Bundespräsidentschaftswahl habe ich im Café gehört, wie zwei Frauen sich laut unterhalten haben. Die eine hat betont, dass sie dazu steht, Rassistin zu sein. Ich bin entsetzt, wie roh Menschen sind, dass Flüchtlinge, die Hilfe brauchen, abgewiesen werden. Ich bin sehr besorgt, wie es weitergeht.

In Österreich gibt es auch viele arme Leute. Ich finde es verständlich, dass viele sagen, ihnen muss vorrangig geholfen werden. Das wäre auch in der Türkei so, oder?

Das ist überall so. Man möchte immer, dass einem zuerst geholfen wird. Aber: Die Welt gehört uns allen. Man kann nicht zuschauen, wie jeden Tag 500 Menschen im Meer ersaufen! Da werden Leichen an den Strand gespült und 200 Meter entfernt gehen die Leute schwimmen, und haben ein „leiwandes“ Leben. Ich bin überzeugt davon, dass genug da ist, genug Essen, genug Platz, genug Erde für uns alle.

Frau Çakir, darf man Sie auch fragen...


1. . . ob es Ihre Eltern jemals bereut haben, dass sie die Türkei verlassen haben?

Nein. Keine Sekunde.


2. . . ob Sie als Atheistin Angst vor dem Tod haben?

Ein türkisches Sprichwort sagt: Die Angst verhindert den Tod nicht. Was brächte es, wenn ich Angst hätte? Ich werde am Ende sterben. Das steht fest. Es gibt für nichts im Leben eine Garantie, außer für den Tod.


3. . . ob Migranten es heute leichter haben als vor 20 oder 30 Jahren?

Jein. Die Infrastruktur ist besser. Es gibt Anlaufstellen, Beratung, Unterstützung bei der Arbeitssuche, Deutschkurse. Das alles existierte früher nicht. Die Menschen, die kamen, wurden zum Arbeiten bestellt. Man hat sich keine Gedanken gemacht, dass sie bleiben könnten. Daher war es auch nicht gefragt, dass sie sich „integrieren“. Heute ist es schwerer, Arbeit zu finden, und die Sprache ist eine Hürde.

Steckbrief

1971
Seher Çakir wird in Istanbul geboren.

1983
Übersiedlung nach Österreich. Çakir ist gelernte Fotohändlerin und studierte an der Pädagogischen Akademie.

1999
Veröffentlichung von „Die Fremde in mir“, „Eure Sprache ist nicht meine Sprache“.

2005–2009
Preisträgerin des Wettbewerbs „Zwischen den Kulturen“, Exilliteraturpreis für „Hannas Briefe“, Staatsstipendium für Literatur und Wortstätten-Stipendium, sie schreibt „Sevim & Savaş oder Liebe und Kampf“, ein Theaterstück. Weitere Werke: „Zitronenkuchen für die 56. Frau“, „ich bin das festland“. Am 18. September liest Çakir bei „Leinen los“, dem Literaturfest auf dem Neusiedler See.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2016)

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