Paparazzo, Wanderer, Preisträger: Fotograf in anderen Welten

Der Australier Warren Richardson vor seinem prämierten Foto.
Der Australier Warren Richardson vor seinem prämierten Foto.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Warren Richardson ist der Gewinner von World Press Photo 2016. Gespräch mit einem Fotografen, der für seine Bilder über Grenzen geht.

Sie liegen flach im Feld und dürfen sich nicht rühren. Über ihnen wabert eine Wolke aus Pfefferspray. Er dringt in ihre Lungen, er brennt in ihren Augen. Aber aus ihren Mündern dringt kein Laut. Wenige Meter von ihnen entfernt steht die ungarische Polizei im Dunkel der Nacht, die sie daran hindern will, illegal in ihr Land einzureisen. Es ist der 28. August 2015, eine Woche, bevor Europa die Grenze für Flüchtlinge öffnen wird. Als der Pfefferspraynebel verschwindet, verschwinden auch die Polizisten, sie haben die kleine Gruppe im Dunklen nicht entdeckt.

Innerhalb kurzer Zeit beginnt eine Gruppe syrischer Ingenieure, den Stacheldrahtzaun mit Holzblöcken zu heben, damit die Menschen durchkriechen können. „Sie waren unfassbar schnell“, sagt Warren Richardson heute. Der australische Fotograf lag die ganze Zeit mit ihnen in dem Feld. Die fünf Tage davor hatte er kaum geschlafen. Er wollte die Flucht der Menschen dokumentieren. Richardson krabbelte mit den Flüchtlingen durch den Zaun, drehte sich um und legte los: Vor ihm ein Mann, der hastig sein Baby durch den Stacheldraht reichte. Klick. Das Foto sollte Monate später zum World Press Photo 2016 gewählt werden. Richardson findet, es sei gar nicht das beste der Serie gewesen.

Zu Fuß nach Norwegen

Als er von der Auszeichnung erfährt, steht er in seiner neuen Heimat Budapest und will sich gerade nach Trondheim in Norwegen aufmachen. Zu Fuß. „Göttliche Intervention“, nennt er den Anruf. Wie so oft in seinem Leben kommt es anders als geplant.

Richardson sitzt an diesem Nachmittag im Hof der Galerie Westlicht, wo derzeit die besten Pressefotos 2016 ausgestellt werden. Durch seinen buschigen braunen Vollbart ziehen sich bereits die ersten grauen Fäden. Seine Wanderschuhe haben Risse. Er ist doch noch nach Norwegen gewandert. Seit vier Monaten ist er unterwegs. Wien ist sein letzter Stopp, bevor er wieder nach Budapest zurückkehren kann. Zu seinem vierjährigen Sohn. In den vergangenen zwei Monaten lebte er mit Drogensüchtigen auf den Osloer Straßen. Er wischt mit dem Finger über das i-Pad: Abhängige, wie sie sich Spritzen in den Oberschenkel geben, in den Bauch, in den Hals. Ein Tisch voll mit Drogen, eine große Blondine, die sich abends zurechtmacht, um auf den Strich zu gehen. „Eine hochintelligente Frau“, sagt er. Die Serie sei eine der traurigsten Dinge, die er jemals gemacht habe. Ein Foto ist nicht zu sehen. Das, auf dem eine Frau vor seiner Kamera stirbt. Eine Überdosis. „Ich tat alles, um sie zu retten.“ Es gelang ihm nicht.

Ein Journalist hätte ihm einmal gesagt, dass er alle Regeln des Journalismus brechen würde, weil er sich zu sehr auf die Leute einlasse. „Ich bin freier Fotograf. Ich kann keine Regeln brechen“, antwortete er. Die Drogenabhängigen in Norwegen sind seine Freunde geworden. Demnächst werden sie einen Entzug wagen. Auslöser für die Entscheidung war ein Gespräch mit ihm. „Ich fühle mich verantwortlich. Daran kann ich nichts ändern“, sagt Richardson. Es gibt wenig, was der 47-Jährige noch nicht gemacht hat. Er fotografierte Landminenopfer in Laos, Obdachlose in Budapest, Gangmitglieder in Miami, lebte schweigend als Mönch in Asien. Er wurde für seine Fotos geschlagen, mit dem Messer verletzt und eingesperrt. Aber er erlebte auch unglaubliche Gastfreundschaft und Hilfe von Menschen, von denen er es nicht erwartet hätte. „Auch schlechte Menschen haben Gutes in sich“, sagt er. „Und ich kann reden.“ Viele Fotografen würden sich hinter der Kamera verstecken. Er nicht.

Um als freier Fotograf zu überleben, hat er auch schon als Paparazzo gearbeitet. Einmal lauerte er Liev Schreiber und Naomi Watts auf, einmal Jude Law. „Ich habe viel gelernt von den Paparazzi“, sagt er. Dass es auch nur Menschen sind, aber auch die Gier des Geschäfts. Seit er den World Press Photo Award gewonnen hat, sei es finanziell leichter für ihn. Seine Pläne sind nun aber nicht weniger radikal. Demnächst will er von Trondheim zu Fuß zum Nordpol gehen – und von dort zurückradeln. „Ich will die Welt erleben“, sagt er. Die Kamera sei sein Werkzeug dafür.

Zur Person

Warren Richardson ist gebürtiger Australier und arbeitet seit 30 Jahren als freier Fotograf. Der 47-Jährige ist Gewinner von World Press Photo of the Year 2016. Sein Foto zeigt einen syrischen Flüchtling, der sein Baby durch einen Stacheldrahtzaun an der ungarischen Grenze reicht. Die besten Fotos des World-Press-Photo-Wettbewerbs werden derzeit in der Galerie Westlicht ausgestellt. Die Ausstellung läuft bis 16. Oktober (tgl. 11 bis 19 Uhr, Do 11–21 Uhr).

Web: www.westlicht.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

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