Hartmut Rosa: "Rennen, nur um auf der Stelle zu treten"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa erhält für sein neues Buch, "Resonanz", den Tractatus-Preis des Philosophicums Lech. Ein geglücktes Leben hängt von einer gelungenen Weltbeziehung ab, sagt er. Was das ist, weshalb er den Autonomiegedanken in der modernen Welt für überbewertet hält und ein Grundeinkommen für unerlässlich, erklärt er der "Presse am Sonntag".

Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung, schreiben Sie in Ihrem jüngsten Buch, „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“. Was meinen Sie damit?

Hartmut Rosa: Ich hatte nach meinem Buch „Beschleunigung und Entfremdung“ das Gefühl, dass ich mit der Beschreibung der Beschleunigungsphänomene weitgehend fertig war. Mein Schlüsselbegriff für die Analyse der gegenwärtigen Bedingungen lautet „dynamische Stabilisierung“. Die moderne Gesellschaft kann sich nur durch Steigerung erhalten. Das sehe ich als Grundproblem. Ich hatte allerdings keine Antwort, wie wir als Gesellschaft mit der Beschleunigung umgehen können. Tatsächlich wurde ich von vielen falsch verstanden. Sie meinten, ich plädiere für Entschleunigung und dafür, mal etwas langsamer zu werden. Das wollte ich aber nicht. Vielmehr hatte ich keine Antwort, das hat mich selbst beunruhigt.


Konstruktiver ist es freilich, ein Problem nicht nur aufzuzeigen, sondern auch eine Lösung anzubieten.

Ich sehe mich ja in der Theorietradition der kritischen Theorie. Aber in einer gewissen Differenz zu der kritischen Theorie, wie sie etwa Theodor Adorno vertreten hat, reicht es mir nicht, einfach nur negativ oder gar zynisch auf die Verhältnisse zu blicken. Ich denke, das ist langweilig. Dass wir Probleme haben, wissen wir doch alle. Und ich bin überzeugt, dass in den Verhältnissen selbst Ansatzpunkte zu finden sind, wie man sie besser machen kann.


Ihr Buch versteht sich als „Grunddokument des guten Lebens“. Demnach hängt ein gutes Leben davon ab, ob die eigene Beziehung zur Welt resonant, also geglückt, ist?

So ist es.


Der Begriff „Beziehungen“ passt für mich im Verhältnis zu Menschen oder zu Tieren, ich verstehe aber nicht, wie eine Beziehung gleich zur ganzen Welt aussehen soll.

„Welt“ ist für mich ein Sammelbegriff für alles, was uns begegnen kann. Dazu gehören Menschen, Dinge, Situationen, die Natur, aber auch Ideen. Und ob wir das, was uns da gegenübersteht, als etwas Peinliches, Bedrohliches oder Interessantes und Herausforderndes erleben, hängt von unserer Weltbeziehung ab. Menschen sagen ja auch manchmal, sie wollen in die Natur. Sie haben dann das Gefühl, sie stehen der Natura als Gesamtheit gegenüber. Auch die Kunst hat diese Funktion, uns mit dem Leben in Verbindung zu setzen.


Aber Beziehung ist – auch in Ihrer Diktion – immer etwas Zweiseitiges. Wenn ich eine alte Vase vor mir sehe, kann ich eine Beziehung zu ihr entwickeln. Aber welche Beziehung hat die Vase denn zu mir?

Das ist ein heikler Punkt, über den ich immer wieder nachdenke. Vielleicht bin ich damit auch noch gar nicht fertig. Aber bleiben wir bei der Vase: Vielleicht ist es eine Vase Ihrer Großmutter, Sie verwenden sie und merken, sie ist ganz fein gebaut oder hat einen kleinen Sprung. Damit ist die Vase auch für Sie nicht mehr die gleiche Vase, die Ihnen da begegnet. Was Ihnen begegnet, hat sich und auch Sie verändert. Denn da, wo Resonanz eintritt, verändert man sich. Man benutzt einen Menschen, ein Ding oder eine Idee nicht nur, sondern man wird davon so berührt, dass man sich tendenziell verändert. Und zwar in eine Richtung, die man vorher nicht vorhersagen kann.


Resonanz auf Knopfdruck gibt es demnach nicht, zumal ja zwei Saiten ins Klingen kommen müssen. Richtig?

Ja, Resonanzerfahrung kann man nicht instrumentell herbeiführen, aber man kann Voraussetzungen schaffen. Wie wir gegenüber dem, was uns begegnet, gestimmt sind, daran können wir zum einen arbeiten. Ein Notarzt sollte in einer Stresssituation vor allem schnell und effizient sein und sich von der Tragik des Geschehens nicht beeindrucken lassen. Er darf gerade nicht Empathie empfinden, würden wir jedenfalls hoffen. In einem Konzert ist derselbe Notarzt dann eher auf Resonanz gestimmt. Da will er sich berühren und bewegen lassen. Und abgesehen von der eigenen Haltung kann man sich zweitens auch Resonanzachsen schaffen. Der eine empfindet am Berg, der andere in einer Ausstellung oder in der Kirche Resonanz. Diese Achsen sollte man pflegen, wenngleich Resonanzoffenheit auch immer mit Verletzbarkeit einhergeht.


Resonanz gefährdet demnach meine Autonomie. Wenn ich mich verliebe, ist nachher nichts mehr so wie vorher. Nicht jeder ist willens, sich auf dieses Wagnis einzulassen.

Ein Teil der Probleme der Moderne ruht daher, dass wir den Autonomiegedanken zu sehr betont haben. Die Idee der Selbstbestimmung und des In-Kontrolle-Seins verhindert das Erleben von Resonanz. Doch jene Erfahrungen, die für uns die größten und wichtigsten waren, haben immer auch ein Moment des Autonomieverlusts mit sich gebracht. Wenn wir uns verlieben, ändern wir unsere Pläne, wir sagen: Ich konnte doch gar nicht mehr anders, weil ich überwältigt war.


Warum geht uns Autonomie heute über alles, sogar über die eigenen Gefühle?

Das ist ein Grundcharakteristikum der modernen Gesellschaft. Wir wollen die Welt verfügbar machen und kontrollieren. Das ist das Programm der Moderne. Mir scheint dahinter ein sehr einseitiges Verständnis von Resonanz zu stehen. Natürlich ist es wichtig, seine eigene Stimme zu hören. Wir haben nur dabei übersehen, dass Resonanz auch von der anderen Seite abhängt. Wir müssen auch in der Lage sein, eine andere Stimme wahrzunehmen, und bereit sein, uns von ihr berühren zu lassen. Das haben wir vergessen.


Sie verwenden immer wieder den Begriff des „rasenden Stillstandes“. . .

. . . und meine damit, dass wir immer schneller rennen müssen, nur um auf der Stelle zu treten. Irgendetwas ist da in der Moderne gekippt. Denn als dieses ganze Dynamisierungsprogramm begann, war die große Verheißung, mit mehr Produktion, mehr Arbeit und Anstrengung würde auch ein besseres Leben einhergehen. Die Steigerung sollte gerade dazu dienen, resonante Lebensverhältnisse zu ermöglichen, weil wir gerade nicht mehr von Hunger und Armut geknechtet werden. Das hat sich aber in unserer Wahrnehmung klar verändert. Steigerung ist heute nicht mehr Vorwärtsbewegung. Das kann man auch empirisch gut nachweisen. Wenn Eltern über ihr eigenes Verhältnis zur Arbeit und zu ihren Kindern sprachen, sagten sie so bis zur Jahrtausendwende: Sie arbeiteten, damit es die Kinder einmal besser haben. Heute sagen sie, sie arbeiten, damit es ihren Kindern nicht schlechter ergeht als ihnen selbst.


Die Tücke dabei: Je mehr ich in diesem Jahr arbeite, umso mehr muss ich im Folgejahr rackern. Das alles, nur um den Status quo zu bewahren. Eine wenig reizvolle Perspektive.

In der radikalsten Variante findet man hier sogar eine Erklärung dafür, weshalb auch im Westen eine derart abartige Ideologie wie die des Islamischen Staates ihre Anhänger findet. Offensichtlich ist sie auch für viele Menschen, die inmitten des demokratischen Wohlstands aufwachsen, reizvoll. Der IS verspricht nämlich das Gegenteil vom rasenden Stillstand. Die Ideologie ist das Einfrieren der Verhältnisse, da wächst nichts und beschleunigt nichts. Stillstand ist das Ideal.


Zu etwas anderem: Wie wichtig ist materieller Wohlstand für ein geglücktes Leben?

Er kann auf jeden Fall nicht alles sein. Die Gleichsetzung, Wohlergehen hänge vom Vermögen ab, ist zu einfach. Die Frage der Weltbeziehung hängt nicht nur von den Ressourcen ab. Mit zwei Einschränkungen. Die eine ist: Wenn ich meine Grundbedürfnisse nicht decken kann, ist die Welterfahrung eine feindliche. Sie tritt mir hart und kalt gegenüber. Das zweite: Muss ich ständig Angst haben, dass ich morgen nicht mehr satt werden könnte, stellt sich ein ähnliches Problem ein. Deshalb habe ich politisch die Hoffnung, dass wir über ein Grundeinkommen vieles ändern könnten.


Was würde ein Grundeinkommen ändern?

Wir würden dann nicht auf immer mehr zielen müssen, sondern auf genug. Wenn wir wissen, dass die Grundbedürfnisse gedeckt sind, änderte sich unsere Beziehung zur Welt deutlich. Ich glaube auch nicht, dass wir dann nicht mehr arbeiten wollten. Denn Arbeit ist eine der wichtigsten Resonanzachsen in unserem Leben überhaupt.


So manchen geht es aber nicht darum, genug zu haben, sie wollen immer mehr.

Wenn jemand giergetrieben ist, dann würde ein Grundeinkommen nichts ändern. Ist der Hauptantrieb aber die Angst, dann würde das Grundeinkommen einen ganz großen Unterschied machen. Dann nämlich würde damit eine wesentliche Quelle der Angst verschwinden.

Steckbrief

1965 wurde Hartmut Rosa in Lörrach geboren. Er studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

2004 habilitierte er an der Universität Jena mit der Studie „Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne für Soziologie und Politikwissenschaft“.

Seit 2005 ist Hartmut Rosa Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im selben Jahr schrieb er das Buch „Beschleunigung“.

2016 publizierte er das Buch „Resonanz“, wofür er bei dem Philosophicum Lech 2016 den Essayisten-Preis „Tractatus“ erhält.

Herr Rosa, darf man Sie auch fragen . . .

1 . . . ob Sie Bescheidenheit für ein geglücktes Leben als unentbehrlich erachten?
Ich will Bescheidenheit nicht als Lebensdogma ausrufen, ganz und gar nicht. Da finde ich nichts Sympathisches dran, wenn ich sagte: „Bescheidet Euch! Beschränkt Euch!“ Und zwar sowohl für die individuelle Lebensführung als auch für die gesellschaftliche Orientierung nicht. Wir brauchen vielmehr eine Verheißung, auf die wir zuwollen, und keinen Zeigefinger, der mahnt, was wir alles nicht tun dürfen.

2 . . . ob Resonanz und Achtsamkeit Hand in Hand gehen?
An der Achtsamkeitsbewegung stört mich, dass sie alles dem Subjekt auferlegt und aufbürdet. Die Beziehungsdimension wird völlig vernachlässigt. Die Devise: Wenn du nur richtig gestimmt bist, ist die Welt in Ordnung, dann ist dein Leben okay, irritiert mich. Die Verhältnisse und deren Gestaltung spielen gar keine Rolle. Das stört mich in gewisser Weise.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2016)

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