Späte Abtreibung: Eine einsame Entscheidung

Carmen Kuntner mit ihren beiden Kindern Lea und Jonas. Beide kamen lebensgefährlich krank auf die Welt, sind jetzt aber weitgehend gesund.
Carmen Kuntner mit ihren beiden Kindern Lea und Jonas. Beide kamen lebensgefährlich krank auf die Welt, sind jetzt aber weitgehend gesund.(c) Stanislav Jenis
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Wenn Eltern von einer schweren Erkrankung ihres ungeborenen Kindes erfahren, stehen sie vor einer großen, schweren Entscheidung: Soll das Kind leben oder nicht? Für viele Familien ist die Pränataldiagnostik Fluch und Segen zugleich.

Astrid ist beruflich erfolgreich, hat eine neunjährige, gesunde Tochter und erwartet mit ihrem Mann ihr zweites Wunschkind. Bei einer Routineuntersuchung erfährt sie, dass das Baby höchstwahrscheinlich mit Trisomie 21, also dem Downsyndrom, geboren wird. Bald darauf ergibt ein weiterer Test einen schweren Herzfehler des Kindes. Ausgerechnet das Herz, auf das während der Schwangerschaft durch kein Medikament wirklich Einfluss genommen werden kann. Denkbar wäre eine komplizierte, riskante Operation nach der Geburt.

Astrid, gespielt von Julia Jentsch („Die fetten Jahre sind vorbei“, „Sophie Scholl – Die letzten Tage“), ist die Hauptfigur in Anne Zohra Berracheds neuem Film „24 Wochen“, der am 23. September ins Kino kommt. Darin spricht ihre Mutter schließlich aus, was niemand zu denken wagt – die Möglichkeit, das Kind trotz des sechsten Schwangerschaftsmonats nicht zu bekommen.

Die Suche nach einer Entscheidung treibt nicht nur Astrid an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, sondern wird auch zur Bewährungsprobe für ihre Beziehung. Denn während sie mit sich ringt und an eine Abtreibung denkt, will ihr Mann das Kind bekommen und ist überzeugt davon, diese Herausforderung gemeinsam bewältigen zu können.
In praktisch derselben Situation befand sich vor einigen Jahren auch Carmen Kuntner aus Enzersdorf an der Fischa in Niederösterreich. Und das gleich zwei Mal. Sowohl bei ihrer Tochter Lea als auch bei ihrem Sohn Jonas wurden während der Schwangerschaft schwere Missbildungen diagnostiziert. Beide Male wurde ihr die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs nahegelegt. Beide Male lehnten sie und ihr Mann ab.

Kaiserschnitt und Operation. Lea, mittlerweile vier Jahre alt, wurde zehn Wochen vor dem errechneten Geburtstermin per Kaiserschnitt auf die Welt geholt, weil es zu Wasseransammlungen in ihrem Körper gekommen war. Bei ihrer Geburt hatte sie eine offene Bauchdecke, Teile der inneren Organe befanden sich in der Nabelschnur.

Die folgenden Wochen kämpften die Ärzte um Leas Leben – Operationen, Intubationen, Atemaussetzer und Dialysen inklusive. Die größten Probleme machten die Nieren. Die Ärzte zogen sogar in Erwägung, die lebenserhaltenden Maßnahmen abzuschalten, sollte das Nierenversagen anhalten. „In der Nacht, in der die Ärzte diese Option ins Spiel brachten, habe ich erstaunlicherweise ziemlich gut geschlafen“, erinnert sich Leas 36-jährige Mutter heute.

„Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich, dass ihre Nieren angesprungen sind. Ich habe es gespürt. Und Lea muss es auch gespürt haben – die viele Unterstützung, die ihr zuteil wurde.“ Von da an ging es nur noch bergauf. Nach vier Monaten im Wiener AKH, davon zwei in der Intensivstation, durften Mutter und Tochter nach Hause, wo sich Leas Zustand von Tag zu Tag deutlich verbesserte. Heute ist sie praktisch kerngesund und hat eine gewöhnliche Lebenserwartung. Dass das auch auf ihren kleinen Bruder Jonas zutrifft, ist sehr wahrscheinlich, aber nicht mit Sicherheit zu sagen. Der heute Zweijährige kam mit einem sogenannten hypoplastischen Linksherzsyndrom auf die Welt – mit einer zu kleinen linken Herzkammer. Da dieses Syndrom erst seit Anfang der 80er-Jahre bekannt ist, fehlen in Sachen Lebenserwartung die Erfahrungswerte.

Drei Optionen nach der Geburt. Erkannt wurde die Fehlbildung rund um die 22. Schwangerschaftswoche. Woraufhin Jonas' Eltern drei Optionen dargelegt wurden: die Schwangerschaft abzubrechen; das Baby natürlich auf die Welt zu bringen und nichts zu unternehmen, bis es stirbt; oder es auf die Welt zu bringen und zu behandeln. Gesetzlich ist das alles in Österreich erlaubt. „Die ersten beiden Optionen kamen für meinen Mann und mich nicht eine Sekunde lang in Frage“, sagt Kuntner. „Ich lasse mein Kind doch nicht sterben, obwohl es Möglichkeiten gibt, ihm zu helfen.“

Diese Möglichkeiten umfassen im Wesentlichen drei Operationen, bei denen das Herz Schritt für Schritt so umgebildet wird, dass die rechte Kammer die Aufgaben der linken übernimmt. Zwei Operationen hat Jonas bereits hinter sich, die dritte wird folgen. Einschränkungen, sagt die Mutter, gibt es in seinem Leben de facto keine. Auch künftig dürften ihm alle Möglichkeiten offenstehen – abgesehen von einer Karriere als Spitzensportler.

Für Kuntner ist es Schicksal, Lea und Jonas bekommen zu haben. „Die beiden haben meinen Mann und mich als Paar zusammengeschweißt. Ich sehe ihre Geburt als eine Aufgabe, die uns gestellt wurde und die wir meistern mussten“, sagt sie. „Wir haben diese Aufgabe bewältigt und sind als Familie gestärkt daraus hervorgegangen.“

Zu sehen, was für ein fröhliches Gemüt ihre Kinder hätten und wie viel und gern sie lachten, mache sie jeden Tag sehr dankbar. Was auch der Grund dafür sei, ihre Geschichte öffentlich zu machen: um den Leuten Mut zu machen, an ihre Kinder zu glauben und ihnen zu vertrauen. „Ich habe meinen Kindern auch vertraut und sie niemals aufgegeben. Jetzt sind sie so eine Bereicherung für unser Leben. Voller Energie und Lebenshunger. Ein bisschen stur zwar, aber wenn sie das nicht wären, wären sie nicht hier.“

Eine Einstellung, die auch der Gmundnerin Michaela Altendorfer bekannt vorkommen dürfte. Bei ihrem ältesten Sohn wurde dasselbe Linksherzsyndrom erst im neunten Monat der Schwangerschaft entdeckt – durch Zufall. „Weil mein Arzt gerade ein neues Ultraschallgerät bekommen hat“, erzählt sie. „Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich habe die Diagnose gehasst.“ Die Ärzte gaben ihr drei Tage, um sich zu entscheiden. Drei Tage, in denen sie sich allein gelassen fühlte und niemanden hatte, der ihre Situation nachvollziehen konnte. Dabei hätte sie genau das gebraucht – mit anderen Eltern reden, die das bereits erlebt haben.

Da die Schwangerschaft schon weit fortgeschritten war, hätte das Kind bei einem Abbruch mit einer Giftspritze getötet werden müssen – anschließend hätte sie es auf natürlichem Weg bekommen. Altendorfer und ihr Mann entschieden sich gegen die Abtreibung. „Ich habe einfach gewusst, dass es gut gehen wird. Ich hätte ihn nicht tot auf die Welt bringen können“, sagt sie. Heute ist Jakob 16 Jahre alt und lebt ein normales Leben.

Als Konsequenz aus ihrer Geschichte gründete Altendorfer den Verein Herzkinder, der mittlerweile 4000 Familien im Jahr betreut. Beraten werden Eltern in jeder Situation – vor der Geburt und danach, egal, ob das Kind herzkrank auf die Welt kommt oder sich die Eltern für eine Abtreibung entscheiden. Nur eines kann der Verein nicht: den Eltern die Entscheidung abnehmen. „Diese muss man selbst treffen. Weil man auch selbst mit den Konsequenzen leben muss“, sagt Altendorfer. Zwar gehen die meisten Herzoperationen gut aus, „aber es gibt keine Garantie“. Jede Entscheidung hat Folgen. Sie kennt auch Eltern, die die Abtreibung bereut haben. „Gerade wenn sie Kinder sehen, die im gleichen Alter sind, fragen sich viele: Was wäre, wenn die Operation doch gut gegangen wäre?“ 700 bis 800 Kinder werden jährlich mit Herzfehlern geboren. Es ist die häufigste Fehlbildung überhaupt. Wie viele Eltern tatsächlich abtreiben, weiß man nicht.

„Die Pränataldiagnostik ist Fluch und Segen zugleich“, sagt Altendorfer. Fluch, weil sie Eltern in die womöglich schlimmste Situation überhaupt bringt – über Leben und Tod ihres ungeborenen Kindes zu entscheiden. Und Segen, weil erst durch die Pränataldiagnostik herzkranke Kinder eine Chance zum Überleben haben. „Bei der Geburt sieht man ja meistens nicht, dass das Kind einen Herzfehler hat“, sagt sie. Ihr Sohn wäre wohl gestorben, hätten die Ärzte die Situation nicht gekannt. Gleichzeitig ist auch die Pränataldiagnostik nicht fehlerfrei. Altendorfer kennt Fälle, wo eine Schwerstbehinderung diagnostiziert wurde, dann habe das Kind aber nur einen kleinen Herzfehler gehabt. Umgekehrt gibt es auch Fälle, in denen mit der Pränataldiagnostik nichts erkannt wird und das Kind dann doch mit einer Fehlbildung auf die Welt kommt. Schlussendlich, sagt Altendorfer, werde die Entscheidung selbst immer eine Bauchentscheidung sein. Und man müsse sie gemeinsam treffen. Viele Beziehungen, erzählt sie, überständen die Belastung nicht. Auch, weil der Weg nach der Geburt nicht einfacher wird.

Mütter plagen Schuldgefühle. Was in dieser Situation alle Mütter gemeinsam hätten, seien Schuldgefühle und Gedanken, für die sie sich schämten: „Was habe ich während der Schwangerschaft falsch gemacht? Wofür werde ich bestraft? Soll das Kind leben oder nicht?“ Auch die Frage, ob sie ihrem Sohn durch die Operationen nicht zu viel zumute, drängte sich bei Altendorfer nach der Geburt auf. Auf seiner Homepage hat der Verein die Geschichte vieler herzkranker Kinder online gestellt. Nicht alle haben überlebt. Altendorfer hat schließlich noch eine Tochter bekommen. Auch bei ihr wurden Löcher im Herzen festgestellt. Allerdings nur drei kleine, wie sie 60 Prozent aller Säuglinge haben. Sie wachsen meist wieder zu. Mittlerweile ist die Tochter zwölf und offiziell herzgesund.

Fakten

Gesetzeslage in Österreich

Abtreibung. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Österreich seit mehr als 30 Jahren straffrei, wenn er – nach ärztlicher Beratung – in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft erfolgt, auch ohne medizinischen Grund. Besteht eine „ernste Gefahr“ für das Leben von Mutter oder Kind, die Gefahr, dass das Kind nach der Geburt geistig oder körperlich schwer geschädigt ist, oder war die Schwangere zur Zeit der Zeugung unmündig, kann das Kind auch später abgetrieben werden.
Herzkinder. Hilfe für Eltern, die sich mit einer späten Abtreibung wegen eines Herzfehlers auseinandersetzen müssen, gibt es beim Verein Herzkinder. www.herzkinder.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2016)

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