"Hätte ich mehr zugehört": Mein Sohn, der Amokläufer

DYLAN KLEBOLD
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Die Mutter eines der Massenmörders an der Columbine High School erzählt zum ersten Mal ausführlich von ihrem toten Sohn, Dylan Klebold - und ihren Einsichten seitdem.

Lassen wir die Frau sprechen, deren Sohn Dylan 1999 an der Columbine High School gemeinsam mit einem Freund 13 Menschen umbrachte und 24 verletzte, bevor er und sein Mittäter sich in der Schulbibliothek selbst umbrachten: „Während jede andere Mutter betete, dass ihr Kind mit heiler Haut davonkommt“, erinnert sie sich, „musste ich dafür beten, dass meines stirbt, bevor es weitere Menschen verletzt.“ Sie habe viel Zeit damit verbracht, dieses Gebet zu bereuen: „Ich wünschte mir, mein Sohn würde sich umbringen, und er tat es.“ Die Liebe zu ihren Kindern – „auch um den Preis des Schmerzes“ seit Columbine – sei die größte Freude ihres Lebens gewesen, schreibt sie auch. „Ich weiß, dass es für die Welt besser gewesen wäre, wenn Dylan nie geboren worden wäre. Aber ich glaube, es wäre nicht besser für mich gewesen.“ Trotz des Grauens, das ihr Sohn verursacht hat, beharrt Sue Klebold auf dem Recht, so zu fühlen. Und sie hat wohl recht.

Nicht jede Mutter eines Amokläufers hat etwas zu sagen. Es ist ein Irrtum, dass man durch Leiden zwangsläufig lernt und reift; man kann auch verbittern, erstarren, zerstörerisch werden. Sue Klebold aber, die Mutter des nach 17 Lebensjahren gestorbenen Dylan Klebold, hat viel zu sagen. Es ist auch lang gereift. Ebenso viele Jahre, wie Klebolds Sohn gelebt hat, sind seit dem Massaker in einem Vorort von Denver im US-Bundesstaat Colorado vergangen; bis heute ist es der blutigste Amoklauf an einer US-amerikanischen Highschool geblieben. Seitdem hat man Abhandlungen über die minutiös geplante Bluttat geschrieben, aus den Tagebüchern und Videobändern der Täter auf deren Psyche geschlossen, über die Wirkung von Gewaltspielen und Mobbing diskutiert. Man hat Eric Harris als den Psychopathen mit sadistischen Gewaltfantasien ausgemacht, den Leithammel – und Dylan Klebold als den depressiven, todessehnsüchtigen, unterwürfigen Mitläufer. Man hat sie als Monster dargestellt und auch zu Kultfiguren gemacht, sie wurden zu Idolen leidender Teenager – und zu Vorbildern für Nachahmungstäter.

Dylans Eltern sagten die ersten fünf Jahre öffentlich so gut wie nichts – zur Empörung vieler. Sue Klebold ging in ander Form an die Öffentlichkeit, sie engagiert sich seit Jahren in der Suizidprävention. In ihrem Buch „Liebe ist nicht genug“ schildert sie nun zum ersten Mal ausführlich aus ihrer Sicht nicht nur die Jahre unmittelbar vor und nach dem Massaker, sondern auch die Kindheit ihres Sohnes. Dass diese Beschreibungen so „normal“ ausfallen, liegt sicher nicht an einem Defizit der Autorin. Vielmehr ist genau das ein entscheidender Punkt: Die Familie Klebold empfand sich als völlig durchschnittliche Familie. Ihr Leben war, betont sie, „nicht konfliktbeladen, unser Jüngster (Dylan, Anm. d. Red.) war kein schwieriges Kind und schon gar nicht eines, in dem wir (oder irgendjemand sonst) eine Gefahr für sich und andere gesehen hätten. Tom und ich waren liebevolle, aufmerksame und engagierte Eltern, und Dylan war ein süßer, aufgeweckter, anhänglicher Junge.“

Was sie am meisten bereut

Das klingt, als fehle hier Selbstkritik – aber auch davon ist Sue Klebolds Buch voll. Am meisten bedauert sie, dass sie nicht ihr Möglichstes getan habe, um die Wahrheit über Dylans Innenleben herauszufinden; dass sie auf die Schulleistungen geachtet und nicht gemerkt habe, wie sehr ihr Sohn durch die Klassenkameraden gemobbt werde, wie sehr er in der Schule litt. „Ich wünschte, ich hätte ihm mehr zugehört, statt ihm Vorträge zu halten. Ich wünschte, ich hätte öfter schweigend bei ihm gesessen, statt die Leere mit meinen eigenen Worten und Gedanken zu füllen. Ich wünschte, ich hätte alles andere sausen lassen, um mich auf ihn zu konzentrieren.“

Sind das nicht Dinge, die jeder Mensch Tag für Tag versäumt, wenn er mit Mitmenschen Umgang hat? Sind das nicht normale elterliche Selbstvorwürfe? Und was war so auffallend an Dylan Klebold? Dass er perfektionistisch war und sein Leben lang eine übersteigerte Angst davor hatte, in peinliche Situationen zu geraten, „dumm dazustehen“? Dass er sich nur schwer verzieh, wenn er scheiterte? Auch das ist weitverbreitet – und macht aus einem Menschen keinen Mörder.

Es kann ganz in Ordnung scheinen, ohne in Ordnung zu sein – das ist eine der wichtigsten Einsichten Sue Klebolds; warum ihr Sohn zum Massenmörder wurde, wird sie nie verstehen. Aber sie findet die Frage auch sinnlos – hilfreich sei nur die Frage nach dem Wie: Wie bewegt sich ein Mensch in Richtung Selbstverletzung oder Verletzung anderer? Wie verstellt das Gehirn den Zugang zu seinen eigenen Werkzeugen der Selbstkontrolle, des Selbsterhaltungstriebs, des Gewissens? Wie kann man solche Zustände früher erkennen, therapieren? „Wir bringen unseren Kindern bei, wie wichtig es ist, sich die Zähne zu putzen, sich gesund zu ernähren und vernünftig mit Geld umzugehen“, schreibt Klebold. „Wie viele von uns bringen ihnen bei, wie sie auf ihre psychische Gesundheit achten können, oder sind selbst in der Lage dazu? Ich war es nicht, und nichts bereue ich mehr, als dass ich es Dylan nicht beibringen konnte.“

Zur Person

Sue Klebold, geb. 1949, lebt heute in Colorado. Vor dem Tod ihres Sohnes arbeitete sie in einem Programm zur Unterstützung von Erwachsenen mit Behinderungen.

1999 starb ihr Sohn im Zuge eines Amoklaufs an seiner Schule.

Heute engagiert sich Sue Klebold in Organisationen für Suizidprävention.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2016)

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