Der Mann, der den KGB austrickste

„Grossmans Freunde haben das Manuskript im Keller unter Kartoffeln versteckt“: Johann alias Hans Marte.
„Grossmans Freunde haben das Manuskript im Keller unter Kartoffeln versteckt“: Johann alias Hans Marte.(c) Clemens Fabry
  • Drucken

In einer Schultasche schmuggelte er den großen Dissidentenroman „Leben und Schicksal“ in den Westen: Johann Marte, ehemaliger Chef der Nationalbibliothek, über seine abenteuerlichen Jahre im Osten.

Sie haben Ingeborg Bachmann auf ihrer letzten Lesereise begleitet, als Sie Kulturattaché in Polen waren. Woran erinnern Sie sich?

Johann Marte: Das war 1973, wenige Monate, bevor sie verbrannt ist. Sie hat selbst angerufen, ob wir Interesse hätten, unglaublich. Ihr Zustand war nicht gut, wegen der Beruhigungsmittel. Wie sie bei uns im Warschauer Kulturinstitut übernachtet hat, ist übrigens dasselbe passiert wie dann in Rom. Die Zigarette ist ihr im Schlafen aus dem Mund und auf die Matratze gefallen. Bei uns ist sie Gott sei Dank erloschen.

Wie haben die Polen sie aufgenommen?

Bei ihrer Ankunft in Warschau war ihr Koffer nicht da. Sie hat dem Beamten den Inhalt aufgezählt, und am Ende ist ihr eingefallen: „Und ja, goldene Schuhe.“ Da schaut der Beamte auf, springt auf und küsst ihr die Hände! 15-mal hat meine Sekretärin gezählt. Er war wie verzaubert. Ich aber heiße zu meinem Unglück Hans, und bei ihr heißt es ja . . .

„Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit dem Namen Hans!“

Genau. Ich habe mir gedacht, deswegen redet sie nix mit mir. In Breslau sind die Studenten gleich über sie hergefallen. Als sie dann hätte anfangen sollen, hat sie kein Wort mehr gesprochen! Zu mir sagte sie, das ist ja wie in Preußen . . . Wahnsinnig peinlich war das, ich dachte mir schon, na, das wird lustig. In Krakau dann haben die Leute sie in Ruhe gelassen, nur Blumen hingestellt und eine Kerze. Da hat sie geredet! Sie ist immer in Kirchen gegangen, um Ruhe zu finden, wir waren also auch in der Marienkirche. Da kam ein Priester, der hat vor ihr eine Kniebeuge gemacht. Sie drehte sich ganz erschrocken um: „Wieso das?!“ Hinter ihr stand der Seitenaltar mit dem Allerheiligsten . . .

Nach Polen wurden Sie Kulturrat in Russland. Waren die Leute dort sehr anders?

Ganz anders! Sind Diplomaten im Konvoi vorbeigefahren, haben die Polen neugierig gefragt: „Wer fährt da?!“ Die Russen haben sich nicht g'schert, die waren viel teilnahmsloser. Die Schwerkraft des Landes erdrückt vieles.

Russen ticken so anders, heißt es auch heute. Wie redet man also mit ihnen?

Man muss überhaupt einmal mit ihnen reden! Ich hab's getan und wurde sogar dafür getadelt – ich solle mehr zu Diplomatenempfängen gehen . . . Aber das hat mich nicht interessiert, dort ging das Gerede nur im Kreis. Draußen habe ich Neues erfahren. Der Botschafter hat halt nicht alle Berichte unterschrieben, die ich nach Wien geschickt hab. Ich hatte Kontakte zum Zentralkomitee und habe 1982 gesagt, der nächste Präsident wird Andropow. Drauf er: „Das kann nicht sein!“ Er wurde es.

Viele vom Sowjetkommunismus begeisterte westliche Intellektuelle sind damals ja zu Besuch bekommen, zum Beispiel Turrini . . .

Richtig, ich habe Turrini eingeladen, er ist in Moskau aufgetreten und hat auch recht obszöne Gedichte vorgelesen. Zwei Damen sind hinausgegangen und haben noch gesagt: „Nicht dass Sie glauben, wir sind so prüde, aber Sie haben eine Lenin-Plakette am Revers, das betrachten wir als Beleidigung!“ In Petersburg haben ihn Schauspieler gefragt, was das Hauptthema seiner Werke ist, und er hat gesagt, dieser unvorstellbare westliche Konsumismus. Drauf sagt einer von ihnen: „Ach, lieber Gott, nur einen Tag möchten wir in den Genuss dieses Konsumismus kommen!“ Da hat der Turrini betropetzt geschaut.

Haben Sie auch andere westliche Intellektuelle als so naiv erlebt?

Unglaublich naiv! Den „Kaisermühlen-Blues“-Autor, Ernst Hinterberger, haben wir auch eingeladen, der hat sich ja immer als Kommunist ausgegeben. Auf die Frage „Wie gfallt's Ihnen?“ hat er geschimpft: „Nirgendwo kriegt man ein kaltes Bier in dem Land!“ Eine Gewerkschaftsdelegation wollte auch ins Arbeiterparadies, gleich am ersten Abend aber haben sie angerufen: „Wir wollen die Unterkunft nicht, überall sind Russen!“ Also Küchenschaben. Aber das war für russische Verhältnisse normal.

Sie haben sich oft in Gefahr gebracht, etwa als Sie Anfang der 1980er den berühmten Roman „Leben und Schicksal“ von Wassili Grossman in den Westen schmuggelten, den manche für regimekritischer halten als alles von Solschenizyn. Wie kam es dazu?

Grossman war naiv, er hat den Roman einem Verlag gegeben, der gab ihn dem KGB. „Das kann in 250 Jahren erscheinen“, hat das Politbüro zu Grossman gesagt. Kurz danach wurde bei einer Hausdurchsuchung alles mitgenommen, Grossman ist 14 Tage später gestorben. Aber Freunde hatten eine Kopie vom Manuskript in einem Dorf versteckt, im Keller unter den Kartoffeln.

Und wie kam man auf Sie als Helfer?

Der Schriftsteller Wladimir Wojnowitsch hat mich angerufen. Wir hatten einen Code: Wenn er anrief, wusste ich, dass wir uns nächste Woche an einem bestimmten Ort an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde treffen würden. Da musste ich dann gar nicht taktisch Autos wechseln auf der Fahrt zu ihm wie sonst oft.

Wojnowitsch gab Ihnen also das Buch?

Nein, sie haben das Manuskript in einem Badezimmer abgefilmt, und ich habe den Mikrofilm über die Grenze gebracht. Im Westen wollten sie aber das richtige Manuskript, das habe ich dann in der Schultasche meines Sohnes rübergeschafft. Nicht einmal meine Frau wusste das. Da ich einen Diplomatenpass hatte, wurde ich auf dem Flughafen nicht kontrolliert, obwohl man mich bei Verdacht hätte durchsuchen können. Mir war damals gar nicht so bewusst, wie bedeutsam gerade dieses Buch war.

Was haben Sie sonst noch geschmuggelt?

Vieles. Für Lew Kopelew zum Beispiel (prominenter Dissident, Anm. d. Red.). Er hat mich kontaktiert, weil ein Freund von ihm, ein Übersetzer, vor seiner Wohnung zusammengeschlagen worden war – ob KGB oder nicht, wusste man nicht. Jedenfalls lag er im Koma und brauchte Flüssignahrung. Also habe ich diese über Dänemark beschafft. Als ich sie zu Kopelew brachte, standen vor dem Haus die KGB-Leute in den Ledermänteln und haben mich fotografiert. Ich gehe also mit etwas schlotternden Knien mit den Schachteln in die Wohnung und sehe, dass alle Fenster eingeschlagen sind. Kopelew saß da im Wintermantel. Das war eine Strafaktion wegen eines seiner Bücher.

Mit welchen Tricks konnte man die Omnipräsenz des KGB umgehen?

Ich konnte mir mehr leisten als die Deutschen, die als Nato-Mitglieder stärker beobachtet wurden. Um das ungeschriebene Gesetz, nicht mit Fremden zu verkehren, habe ich mich nicht geschert, die geschriebenen habe ich versucht zu unterlaufen. Ich habe etwa Leute zu mir eingeladen, was die Deutschen nicht taten. Ich habe auch für die Deutschen Übergaben vermittelt, so ein russischer Übersetzer deutsche Bücher übersetzen wollte. Der deutsche Botschafter hat mich in einem abhörsicheren Raum gefragt, wie ich das mache, dass – in den 70er-Jahren! – so viel österreichische Literatur in der Sowjetunion übersetzt wird und kaum deutsche.

Was haben Sie erwidert?

Dass sich die Deutschen in ihrer Genauigkeit eben an die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze halten.

Seit vielen Jahren leiten Sie die Stiftung Pro Oriente, die sich für den Dialog zwischen Katholiken und Ostkirchen einsetzt. Heuer gab es das erste Treffen in der Geschichte zwischen einem Papst und einem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Man hat es als interkonfessionellen Durchbruch gefeiert. Kennen Sie den Patriarchen Kyrill persönlich?

Ja, er war in Wien und hat am Tisch, wo wir gerade sitzen, gesagt: Jeder Russe, der geboren wird, ist orthodox.

Das hat schon Dostojewski gesagt. Warum dann überhaupt die versöhnliche Geste?

Die Russen haben Angst, gegenüber dem Patriarchen von Konstantinopel ins Hintertreffen zu geraten. Sie sagen, der hat ein paar Tausend Leute, wir haben 70 Millionen! Als Kyrill aber vom Papst zurückkam, haben sich 400 Leute in Petersburg, auch Professoren und hochrangige Geistliche, versammelt und gegeifert: Ausgerechnet unser Patriarch trifft sich mit dem Oberhäretiker! Sie haben beschlossen, Kyrill in der Messe nicht mehr zu nennen! In Russland hat man zwar die Oberschicht ausgetauscht, aber nicht in der Kirche. Da sitzen immer noch die Alten und schreien, dass der Westen moralisch verfault ist. Ja, die jetzigen öffentlichen Hassorgien gegen den Westen gab es nicht einmal in der Sowjetunion!

Sie liebten Russland, obwohl Ihr Vater, ein NS-Gegner, in einem sibirischen Lager starb?

Ja. Zum Abschied 1943, als er in den Osten ging, sagte er zu meiner Mutter: Lass die Kinder Sport machen! Das hatte er versäumt, er war ein Gelehrtentyp. Fürs Soldatische war er nicht gerüstet.

Herr Marte, darf man Sie auch fragen...


1. . . ob Sie beim Austricksen der KGB-Überwacher öfter Ihren Spaß hatten?

Natürlich. Manchmal habe ich im Vorarlberger Dialekt geredet, den keiner verstand. Das war auch ein Spiel. Die Panik bei Leuten aus dem Westen, etwa bei den Militärattachés, ging allerdings oft ins Psychopathische. Die haben sogar, wenn sie über ein Kanalgitter gingen, geglaubt, dass sie von unten jemand beobachtet.

2. . . ob Sie selbst in Moskau mit ständiger Überwachung gerechnet haben?

Mir haben deutsche Sicherheitsleute gesagt, dass es zur ununterbrochenen Bewachung einer Person, die ein Auto besitzt, 60 Verfolger braucht. Der KGB hat auch nur mit Wasser gekocht.

3. . . was Sie dazu motiviert hat, eine Art Wettkampf mit dem KGB zu führen?
Ich wollte mich nur nicht den Verhältnissen beugen. Meine Kollegen haben gemeint, du bist wahnsinnig! Aber ich wollte einfach normale Verhältnisse.

Steckbrief

1935
Geboren in Feldkirch.

1971–1974
Kulturattaché an der österr. Botschaft in Warschau, ab 1973 auch Leiter des dortigen Österreichischen Kulturinstituts.

1974–1982
Kulturrat an der österreichischen Botschaft in Moskau.

Ab 1986
Leiter der Sektion für wissenschaftliche Bibliotheken, Bundesmuseen und Denkmalschutz im Wissenschaftsministerium. In seine Zeit fällt die organisatorische Reform der Museen und ihre bauliche Sanierung („Museumsmilliarden“).

1993–2000
Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek – die Marte grundlegend reformiert.

Seit 2001
Präsident der Stiftung Pro Oriente, die sich für den Dialog zwischen katholischer Kirche und Ostkirchen einsetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.