„Den Füßen geht es miserabel“

Markus Scheer nutzte das Jubiläum seines Traditionsunternehmens für ein Plädoyer für mehr Körperbewusstsein und Nachhaltigkeit.
Markus Scheer nutzte das Jubiläum seines Traditionsunternehmens für ein Plädoyer für mehr Körperbewusstsein und Nachhaltigkeit.(c) Clemens Fabry
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Nobelschuhmacher Markus Scheer hat zum 200-Jahr-Jubiläum seines Unternehmens eine Streitschrift gegen den modernen Kopfmenschen verfasst.

Ein Besuch bei Scheer ist so schön, dass man dafür Eintritt verlangen könnte. Der gediegene Showroom in der engen Bräunerstraße, die Vitrine mit den Leisten von Kaiser Karl, Franz Joseph und Wilhelm II., dahinter die alte Werkstatt mit der Schusterkugel, einem Glasballon, der einst das spärliche Licht bündeln sollte. Darüber, wo früher die Großeltern wohnten, wird heute gearbeitet: Zwischen antiken Möbeln junge Handwerker, mit Ahle und Faden über Leder gebeugt.

Stundenlang könnte Markus Scheer hier über die Geschichte des Familienunternehmens und die hohe Kunst der Schuhmacherei erzählen – weltweit gibt es weniger als eine Handvoll Orte, an denen so perfekte Schuhe hergestellt werden wie hier. Immer wieder hat Scheer anlässlich des soeben angelaufenen Jubiläumsjahrs über dieses Kulturgut gesprochen, das er in siebenter Generation pflegt. Groß gefeiert wurde nicht. „Es war eher ein Feiern nach innen“, sagt Scheer. Ein Nachdenken über das eigene Tun – und dessen breitere Bedeutung.

Ergebnis dessen ist ein Buch, bewusst schmal gehalten und nicht nur für Schuhfetischisten gedacht. „Es ging darum, wie es den Füßen geht, wie es Schuhen in Zeiten wie diesen geht – und was es bedeutet, eine Leidenschaft zu einem Lebensmodell zu haben, das nicht Mainstream ist.“ Teilweise ist das Buch dabei zur Streitschrift, geraten – „oder eher zu einer Aufweckschrift“. Scheers Fazit: „Unsere Füße sind miserabel beisammen.“ Die Menschen seien die Hälfte ihres Lebens nicht schmerzfrei mobil, „und in Europa gibt es keine Füße mehr, die nicht eine Fehlstellung hätten. Wer keine hat, ist schon ein Exot.“ Dabei sei der Körper ohnehin „ein Großmeister der Kompensation. Aber irgendwann kann er nicht mehr, dann schickt er als Zeichen Schmerz. Wenn man auf den nicht reagiert, beginnt die Zerstörung.“ Ursache dafür sei die moderne Wegwerfkultur mit ihren schlechten Materialien. Auch die Folgen giftiger Kleber seien ein Thema, „das man kritischer betrachten sollte“. Einlagen seien „mögliche Unterstützung, aber nicht der Weg aus der Krise. Man muss die Muskeln wieder aktivieren.“ Große Lust hätte der Vater von vier Kindern, „intelligente Kinderschuhe“ zu bauen. Deren Entwicklung wäre aber ein eigener Forschungszweig. „Allein werde ich das nicht schaffen, dazu ist die Zunft zu klein.“

„Wir sind“, resümiert Scheer, „in rasend schneller Zeit zu reinen Kopfmenschen geworden. Das Resultat ist, dass wir den Kontakt zu unserem Körper verlieren. Wir empfinden ihn als funktionierende Maschine, die ab und zu Wartung braucht, die wir dann outsourcen, an einen Fachmann, die Apotheke oder eine App.“ Damit die eigenen Schritte zu zählen, ist für ihn nicht Fortschritt, „sondern Armutszeugnis“.

Sich mit diesen Themen zu beschäftigen, sagt Scheer, sei ihm jedenfalls „in die Wiege gelegt worden“. Schon als Kind war er seinen Großvater besuchen, Geräusche und Gerüche des Handwerks hätten sich „eingefräst in meine DNA“. Manche seiner Ahnen seien große Stilisten gewesen, sein Großvater wurde in der Nachkriegszeit angesichts der vielen Kriegsversehrten zum Orthopädiepionier. Über das Thema Übergabe, sagt Scheer, ließe sich ein eigenes Buch schreiben.

Taschen, Koffer und Gürtel

Den „Verlockungen der Größe und des Geldes“ habe sich jedenfalls auch er mit bewusster Markenstrategie entzogen – „entgegen vielen Lehrmeinungen, wie man mit so einer Kernmarke umgehen sollte“. Filialen kann er sich „allenfalls unter besten Bedingungen“ vorstellen. Immerhin, in der Bräunerstraße hat man sich unlängst etwas vergrößert, sodass nun etwa auch Platz für Taschnerei, Kassettenbau und die Herstellung von Gürteln ist – in einer „lustvollen Kleinstkollektion“ gibt es diese Dinge auch fertig zum Verkauf.

Dass sich nicht jeder bei ihm eindecken kann, ist klar. Rund 5000 Euro kostet ein Schuh mit Leisten, 3500 jeder weitere, berechnet wird nach Arbeitszeit. Und mehr als 300 Paar pro Jahr kann er mit seinen Mitarbeitern gar nicht herstellen. „Aber jeder muss selbst entscheiden, wo seine Präferenzen liegen. Das Schiebedach wird offenbar leichter angekreuzt als ein teurer Schuh gekauft.“

Er selbst hofft, in Zukunft auch den Beruf des Handwerkers wieder populärer zu sehen. „Es bedeutet, sich ein Leben lang einer Sache zu verschreiben. Das Schöne daran ist: Je älter man wird, desto lohnender wird es.“ Und ein wenig gefeiert werde es auch nach Ablauf des Jubiläumsjahrs. „Im Grunde ist es unglaublich, dass es uns seit 200 Jahren gibt.“

ZUM BUCH

„Der Fuß weiß alles“ (Ecowin, 128 Seiten, 20 Euro) ist ein Plädoyer, sich im Sinne des gesamten Körpers auf seine Füße zu besinnen. Daneben ist es eine kleine Geschichte der Schuhmacherei – und natürlich ein Abstecher in die 200-jährige Geschichte von Rudolf Scheer & Söhne. Autor Markus Scheer (geb. 1972) stieg mit 19 ins Unternehmen ein, seit 2011 führt er es.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.01.2017)

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