Helmut Kutin: Immer auf Augenhöhe

Helmut Kutin
Helmut Kutin(c) Clemens Fabry
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Die Lebensgeschichte Helmut Kutins gäbe einen guten Roman her. Er spricht aber nicht so gern darüber. Lieber redet er über SOS-Kinderdörfer.

Helmut Kutin ist erstaunlich groß. „Vielleicht verwechseln Sie mich ja“, meint er. „Mit meinem Vorgänger. Hermann Gmeiner war klein.“ Aber das ist es nicht. Es ist eher so, dass es praktisch kaum ein Foto von Helmut Kutin in voller Größe gibt. Meistens sieht man ihn knien, sitzen oder hockerln. Aug in Aug mit denen, für die er 280 Tage im Jahr unterwegs ist: die SOS-Kinderdorf-Kinder. „Das Schlimmste ist, wenn man über sie drüberschaut“, sagt der Präsident von SOS-Kinderdorf International.

„Schlimm“ ist allerdings ein Wort, das sich im Gespräch mit Helmut Kutin bald einmal relativiert. „Schlimm“ ist zum Beispiel seine eigene Geschichte, zumindest die frühe. 1941 wurde er als jüngstes von fünf Kindern geboren. Kurz hintereinander starben seine Schwester und die Mutter, sein Vater, der Anwalt Eduard Kutin, verlor aufgrund politischer Wirren die Staatsbürgerschaft, die Familie wurde auseinandergerissen. 1953 war das Jahr, das Helmut Kutins restliches Leben bestimmen sollte. Auch wenn der damals 12-Jährige nicht ahnte, wie sehr ihn SOS-Kinderdorf prägen sollte. Er war einfach nur froh, ein Zuhause gefunden zu haben, und zwar gemeinsam mit seinen Geschwistern, im ersten SOS-Kinderdorf in Imst in Tirol.

Wie war die Lederhose? Dass aus dem SOS-Kinderdorf-Kind einmal der Präsident der mittlerweile weltumspannenden Organisation werden sollte, war keineswegs von Anfang an klar. Der junge Kutin besuchte zuerst einmal die Lehrerbildungsanstalt, studierte in Innsbruck Volkswirtschaft und arbeitete dann in der Tourismusbranche. Erst Hermann Gmeiner, der Gründer von SOS-Kinderdorf und Kutins späterer Mentor, holte ihn 1967 in die Organisation. Dieser Werdegang fasziniert viele. „Ich bin 68“, sagt Kutin. „Aber als ich vor Kurzem in Norwegen war, wollten die Journalisten nur alles über meine Kindheit wissen. Zum Beispiel, wie meine Lederhos'n ausg'schaut hat.“ Hatte er denn eine? „Na, und wie.“

Dabei redet Kutin viel lieber über andere Dinge. Zum Beispiel darüber, dass unter seiner Präsidentschaft, die er 1985 von Hermann Gmeiner übernahm, an die 300 neue Kinderdörfer gegründet wurden. Unter dem Label „International“ wurde die Kinderdorf-Idee damit wohl zum bemerkenswertesten Export Österreichs. Rechtzeitig zum 60-jährigen Gründungsjubiläum der Organisation wurde gerade das 500. Kinderdorf eröffnet. In Cali in Kolumbien. „Eine schwere Geburt“, sagt Kutin in seiner lakonischen Art. „Da gibt es viele Favelas und viele Drogenbarone. Leider haben uns die nix gegeben.“

Reden ist aber insgesamt nicht Helmut Kutins Lieblingsbeschäftigung. Viel lieber denkt er nach. Etwa darüber, wie sich die SOS-Kinderdorf-Bewegung in Mitteleuropa schon verändert hat – und wie sie sich noch verändern muss. „80 Prozent unserer Kinder in Mitteleuropa sind keine Waisen, sondern haben Eltern, die aber nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern.“ Eine schwere Zusatzaufgabe für die Kinderdorf-Mütter, die in gewisser Hinsicht auch noch diese Elternteile mitbetreuen müssten. Das Ziel sei es daher, möglichst vielen gefährdeten Familien außerhalb der SOS-Kinderdörfer zu helfen, damit wirklich nur die Kinder aufgenommen würden, die eine permanente Familienbetreuung bräuchten.

Am allerliebsten aber handelt Kutin. So hält er nach wie vor seine Zeit in Vietnam, wo er das erste SOS-Kinderdorf aufgebaut und geleitet hat – das damals größte der Welt – für „die schönsten Jahre seines Lebens“. Dass er das Land nach der Machtübernahme der Kommunisten verlassen musste, gehört zu seinen „schmerzlichsten Erfahrungen“. Jetzt ist das Kinderdorf wieder in Betrieb – und man erinnert sich noch immer an ihn. „Alle haben sie mich zu meinem Geburtstag angerufen. Ich hatte kein Fest, aber sie haben sich alle in einem Lokal getroffen und gefeiert.“

Das Mädchen ohne Hand. Eine eigene Familie hat er nie gegründet. Man kann sich denken, was er sagen wird. „Die Kinderdorf-Familie ist meine Familie.“ Aber Helmut Kutin meint das sehr, sehr ernst. Das weiß zum Beispiel Vivian aus Ruanda. „Sie ist damals mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester durch die Straßen von Kigali gerannt. Die Rebellen haben die Leute mit Macheten einfach niedergemacht. Beide Eltern mit einem Schlag weg. Vivian, damals zehn, hat versucht, sich zu schützen. Da wurde ihr die Hand abgetrennt, ihrer kleinen Schwester wurde quer durchs Gesicht gehackt. Letztes Jahr habe ich Vivian wieder getroffen. Trotz der Hitze trug sie immer eine Jacke mit langen Ärmeln. Dann bin ich drauf gekommen, dass die Hand, die sie bekommen hat, zu klein war. Mittlerweile ist sie Studentin und hat sich deshalb immer geschämt. Letztes Jahr war sie in Österreich, und wir haben das geregelt.“

Wie steckt er diese Erfahrungen weg? „Akzeptieren und versuchen, etwas Positives draus zu machen.“ Oder mit einem abendlichen Spaziergang durch ein Kinderdorf: „Es ist so schön, dass sie alle da sind.“ Kutin schmunzelt. „Obwohl – manchmal können's mir auch ganz schön auf die Nerven gehen. Wenn's dauernd um mein Zimmer herumjodeln, weil sie glauben, dass ich noch einen Luftballon habe. Da kennen sie kein Pardon.“ Brauchen sie auch nicht. Denn bei Helmut Kutin haben Kinder ohnedies Generalabsolution.

Geboren 1941 als eines von fünf Geschwistern musste Helmut Kutin früh erleben, wie seine Familie auseinanderbrach. 1953 kam er ins erste SOS-Kinderdorf in Imst in Tirol.

Hermann Gmeiner, Gründer von SOS-Kinderdorf, wurde Kutins Mentor. 1967 holte er den studierten Volkswirt in die Organisation. Kutins erste große Aufgabe war der Aufbau des SOS-Kinderdorfs in Vietnam. Diese Zeit hält er für die „schönste seines Lebens“.

Seit 1985 ist Helmut Kutin selbst Präsident von SOS-Kinderdorf International. Vor wenigen Tagen wurde das 500. Kinderdorf in Cali, Kolumbien, eröffnet. Mit dem Ende dieser Amtszeit will Kutin im Jahr 2013 auch die legistische Präsidentschaft zurücklegen. SOS Kinderdorf

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2009)

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