Blind: "Eben Schicksal"

Blind Eben Schicksal
Blind Eben Schicksal(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Mit sieben bekam Mahendra Galani einen Stein auf den Kopf, fünf Jahre später war er völlig blind. Heute begleitet er Gäste, die freiwillig im Dunkeln essen.

Es ist Mahendra Galanis Stimme, die einen als erstes einfängt. Sie ist dunkel, streichelweich, mit einem typisch indischen Timbre. Mit dieser Stimme wiegt einen Mahendra in Sicherheit, gibt Geleitschutz über unbekanntes Terrain. Auf diesem Terrain ist er der Meister, kennt sich aus, wo alle anderen im wahrsten Sinn des Wortes im Dunkeln tappen. Mahendra ist Begleiter im Restaurant „Vier Sinne“, wo er und seine Gäste einen Abend in tiefster Finsternis verbringen; Dinge essen, die sie nicht sehen; versuchen, zu schreiben; und schließlich mit ihrem Partner tanzen. Mit einem kleinen Unterschied: Wenn die Besucher nach vier Stunden, blinzelnd und um eine Erfahrung reicher, in die Welt des Lichts und der Farben zurückkehren, bleibt es für Mahendra dunkel. Denn er ist seit seinem 12. Lebensjahr blind.

Der 50-jährige Inder ist aber auch der beste Beweis, dass Blindheit zwar ein Schicksal ist, aber noch lange kein Urteil. Mahendra verwirklicht seine Träume – und wehrt sich gegen das Klischee, dass blinde Menschen anders denken oder anders fühlen als sehende. „Zum Beispiel die Liebe“, sagt er. „Um nur ein Klischee zu nennen.“ Stimmt es denn nicht, dass blinde Menschen dazu tendieren, bei einem Partner zu bleiben, komme was da wolle, aus Angst davor, wie sie mit dem Leben allein zurechtkommen würden? „Ich bin zum zweiten Mal verheiratet“, sagt Mahendra, „und sehr glücklich.“

Seine zweite Frau, Adriana, hat Mahendra über das Internet kennengelernt, seit 2006 sind sie verheiratet. Auch Adriana ist blind, wie er arbeitet sie in einem Restaurant im Dunkeln. Mahendras erste Frau war nicht blind. Monika traf er 1992 im Sekretariat des Blindenverbands. Er machte damals gerade auf einer Reise durch acht europäische Länder in Österreich Station. Zwar kehrte er nach Indien zurück, doch lange hielt es ihn dort nicht. Die beiden heirateten und hatten einen Sohn. „Unsere Beziehung ist aber nicht deshalb gescheitert, weil sie sehen konnte und ich nicht“, meint Mahendra. „Monika kannte sich durch ihre Arbeit mit Blindheit sehr gut aus. Es ist wie bei allen: Manchmal geht eben etwas schief.“

Schief ging für Mahendra schon einmal etwas, und zwar gründlich. Es war der Tag, an dem er, damals sieben Jahre alt, mit einem Freund in seiner Heimatstadt Bombay (Mumbai) spielte und unglücklicherweise einen Stein auf den Kopf bekam. Mahendra hatte zwar Kopfschmerzen, aber keine äußeren Verletzungen. Zwei Monate später stellten seine Eltern allerdings Veränderungen an seinem linken Auge fest. Die Diagnose war ein Schock: Durch die Verletzung war es zu inneren Blutungen gekommen, und diese hatten den Sehnerv irreparabel geschädigt. Einige Ärzte warnten seine Eltern, dass Mahendra besser nicht mehr in die Schule gehen sollte, um das andere Auge zu schonen, andere rieten zu.

Mit elf begann Mahendra, im Dunkeln gegen Dinge zu laufen. Bald konnte er kaum noch von der Tafel ablesen. Mit zwölf Jahren war der Bub vollends blind. Mahendra machte seinen Abschluss an einer Blindenschule und studierte an der Universität Mumbai Politikwissenschaft und Psychologie. Freunde halfen ihm, lasen ihm die Quellen vor oder sprachen die Texte auf Kassette, die er für seine wissenschaftliche Arbeit brauchte.

Mit einem Job sah es dann allerdings nicht so rosig aus. „Man soll annehmen, was man bekommt“, meint er. „Mir ging es um die finanzielle Sicherheit.“ Mahendra arbeitete 15 Jahre lang in der telefonischen Beschwerdestelle der größten Lebensversicherung Indiens. Kein sehr anspruchsvoller Posten, doch Mahendra verdiente gut und konnte sich einiges leisten: zum Beispiel die Reise in die USA und drei Jahre später die Tour durch acht europäische Länder, die ihn auch nach Österreich führte. Mittlerweile spricht der polyglotte Inder sechs Sprachen und einen Dialekt: Deutsch, Englisch, Gujarati, Hindi, Marathi, Urdu und Kachi.

Bei der Jobsuche in Österreich hilft ihm das allerdings nicht sehr viel. Auch wenn Mahendra Wien für „die beste Stadt der Welt hält“, ist er deutlich unter seinen Qualifikationen beschäftigt. Er arbeitete für „Dialog im Dunkeln“ und für die Telefonseelsorge, ehe er im „Vier Sinne“ Gäste betreute. „Ich verstehe es nicht ganz“, sagt er. „Man kann sich als Blinder zwar zum Physiotherapeuten ausbilden lassen, ausüben darf man den Beruf dann aber nicht. Höchstens Masseur kann man werden. Auch als Richter darf man in Österreich nicht arbeiten.“

„So vieles wäre nicht passiert.“ Gibt es etwas, das Mahendra bereut? Zum Beispiel, dass er doch weiter in die Schule gegangen ist, obwohl ihm einige Ärzte damals dringend abgeraten haben? „Wie könnte ich das bereuen?“, sagt er erstaunt. „So vieles wäre dann nicht passiert. Zum Beispiel wäre ich sicher nie hier gesessen und hätte mich auf Deutsch unterhalten. Manches ist eben Schicksal.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.