Jón Gnarr: "Ich war und bin noch immer Anarchist"

Gnarr noch immer Anarchist
Gnarr noch immer Anarchist(c) EPA (S.OLAFS)
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Jón Gnarr war Taxifahrer, Bassist einer Punkrockband, Autor und zuletzt der beliebteste Fernsehkomiker Islands. Einen Wahlkampf später ist der 44-Jährige Bürgermeister von Reykjavik. Ein "Presse"-Interview.

Sie waren im Laufe Ihres Lebens Taxifahrer, Musiker, Autor und erfolgreicher Komiker. Jetzt sind Sie Bürgermeister – was ist da schiefgelaufen?

Jón Gnarr: Es ist wohl etwas mit der ganzen Gesellschaft schiefgelaufen. Ich habe mich als Bürger verpflichtet gefühlt, etwas zu tun, einzugreifen. Ich wollte schauen, ob ich helfen und etwas besser machen kann. Ich dachte, bei dieser wirtschaftlichen Situation muss es einen besseren Weg geben. So ist die Idee für meine „Beste Partei“ entstanden.

Würden Sie noch einmal kandidieren?

Ja, definitiv. Die Politik ist schon eine erstaunliche Erfahrung.


Haben Sie schon viele Ihrer Ideen umsetzen können, die Sie im Wahlkampf angekündigt haben?

Nein. Aber wir arbeiten hart daran. Mir sind zwei Dinge wichtig, eines ist das Thema Frieden. Ich möchte Reykjavik als Zentrum für Friedensfragen etablieren und verhandle gerade mit unserer Regierung über ein Verbot der Landung von Militärflugzeugen im Stadtgebiet. Aber das ist ein sehr langsamer Prozess. Es geht mir nicht um die großen Showeffekte, sondern um die langsame Entwicklung. Mein zweites Vorhaben ist die Einführung der direkten Demokratie in Reykjavik. In wenigen Wochen startet im Internet das Angebot „Ein besseres Reykjavik“. Es soll Bürgern die Möglichkeit geben, direkt vom Computer aus über einzelne Themen abzustimmen.


Zu diesem Thema will Ihre Partei ja auch die Verfassung ändern.

Nicht nur wir, sondern viele Bürger, die daran arbeiten. Doch das ist ein sehr langsamer Prozess, der viel Zeit beansprucht.


Die Isländer haben Jahrhunderte ohne eigene politische Führung gelebt, heute ist die politische Partizipation so hoch wie in kaum einem anderen Land – und Sie bezeichnen sich als Neoanarchist.

Ich betrachte mich als Anarchist, ich war immer einer. Und ich schätze die Werke von Bakunin oder Kropotkin (russische Anarchisten des 19.Jahrhunderts, Anm.) sehr. Sogar heute sage ich, dass ich für Anarchismus bin. Nicht, weil Anarchie der beste Weg ist, sondern weil ich finde, dass es keinen besten Weg gibt.


Trotzdem nennen Sie Ihre Partei die „Beste Partei“ und suggerieren damit, dass es einen besten Weg gibt.

Dieser Name ist ein Witz. Wir nennen uns „die Besten“, also sind wir auch die Besten... Ich denke, der Anarchismus von heute ist ein fortgeschrittener, entwickelter Anarchismus. Dank des technologischen Fortschritts, dank der Entwicklung des Internets haben sich so viele Möglichkeiten aufgetan, wie man Demokratie neu, direkter gestalten kann.


Aber wie passt das zusammen: Ihr Bürgermeisteramt und Ihr Anspruch, Anarchist zu sein?

Das passt gar nicht zusammen. Aber das ist ja kein Entweder-oder. Ich bin ja auch Surrealist und Komiker und habe trotzdem fünf Kinder großgezogen, ich zahle brav meine Steuern, meine Rechnungen, ich übernehme Verantwortung und bin ein verantwortungsvoller Staatsbürger. Sie fragen, wie ich mich Anarchist nennen kann – nun, ich kann beides.

Und was bedeutet diese Philosophie konkret?

Anarchismus ist für mich eine utopische Vorstellung: erstens die totale Eliminierung von Gewalt und Krieg und Armeen. Zweitens direkte Demokratie. Und drittens eine libertäre, sozialistische Gesellschaft. Das bedeutet, das System kümmert sich um Grundbedürfnisse wie die Gesundheitsversorgung, den Kindergarten, die Schulen und die Sicherheit, lässt den Bürgern aber gleichzeitig ihre persönliche Freiheit und Verantwortung. Vielleicht können wir ein solches System aufbauen. Vielleicht werden wir der erste anarchistische Staat der Welt.


Aber Island hat schon heute ein starkes Sozialsystem und persönliche Freiheiten.

In Island gibt es keine Armee, und die Polizei trägt keine Waffen. Aber es gibt nicht viele persönliche Freiheiten. Zwei Dinge machen Island sehr kompliziert: Vetternwirtschaft und Korruption. Vetternwirtschaft war immer Teil unserer Gesellschaft, weil wir so wenige sind. Jeder ist mit jedem verwandt. Das kann sehr surreal oder absurd werden. Beispielsweise gibt es diese Person (David Oddsson, Anm.), die Parteichef der Konservativen und Premierminister war und in ihrer Amtszeit die Privatisierungen massiv vorangetrieben hat. Während der Krise war sie Chef der Zentralbank. Heute ist sie Chefredakteur der ältesten Zeitung Islands. Dieselbe Person, innerhalb von zehn Jahren! Und dieser Mensch schreibt Artikel über mich und nennt mich einen Idioten, den man loswerden sollte. Das ist totaler Irrsinn.


Können Sie aber auch die Menschen verstehen, die jetzt das Ende der Demokratie befürchten, weil Sie mit Ihrer Spaßpartei an die Macht gekommen sind?

Ja, das kann ich verstehen. Aber ich kann meine Gegner nicht gewinnen lassen. Meine Herausforderung ist, ihnen zum Trotz im Amt zu bleiben. In den vergangenen Jahren haben clevere Halbstarke die Macht in Island übernommen – und das ist nicht richtig! Das waren keine netten Leute, und mir wäre es wirklich sehr recht, wenn sie abhauen würden.


Bevor Sie kamen, war in Island die Wut auf das Finanzsystem, Politik und Medien groß. In Europa hieß es, Ihr Auftauchen auf der politischen Bühne ginge mit dem Ende des etablierten Systems einher. Haben Sie sich durch das Amt verändert?

Nein. Aber ich hoffe, wir können die alte Art, Politik zu machen, zertrümmern, damit die Leute effizientere und reifere Arten finden, die Gesellschaft zu organisieren. Etablierte Parteien auf der ganzen Welt haben ihre Netzwerke und überall ihre Leute platziert. Bei der „Besten Partei“ gibt es nicht einmal Mitgliedschaften. Wir spielen das Spiel nicht mit.

Früher, als Sie Punk waren, saßen in den Kneipen von Reykjavik Banker und waren sehr beliebt. Dann fielen die Banker in der öffentlichen Gunst, und Sie als ehemaliger Punk wechselten auf die Seite der Macht. Glauben Sie, dass es möglich ist, das System von innen zu verändern?

Das glaube ich, aber manchmal bekomme ich Zweifel. Manchmal bin ich schon sehr skeptisch und denke, dass man das nie ändern kann. Und dann bin ich wieder sehr optimistisch. Vielleicht funktioniert es auch nicht, aber – wir versuchen es.


Wenn Sie an Ihr früheres Leben denken, und an Ihre Zeit als Bürgermeister: Was hat mehr Spaß gemacht?

Es hat immer Spaß gemacht, wenn man das Gesamtbild betrachtet. Ich habe auch früher sehr unterschiedliche Dinge gleichzeitig gemacht – in einem Film mitgespielt und einen anderen produziert beispielsweise. Das alles war sehr viel Arbeit, aber ich habe es genossen. Seit ich im Amt bin, fühle ich, dass es gut ist, jetzt einfach diese Arbeit zu tun. Und ich habe den Eindruck, dass mein Beispiel viele junge Leute inspiriert. Also ehrlich, mir gefällt auch diese Art der Arbeit sehr.


Während des Vulkanausbruchs im Frühjahr 2010 hat man gesehen, dass Island trotz allem Teil Europas ist. Wollen Isländer in die EU?

Ja, ich meine schon. Wir haben im Sommer ein Referendum, und ich denke, dass wir für den Beitritt stimmen werden.


Sie waren früher eine berühmte Persönlichkeit. Ein Politiker ist zwar auch berühmt, aber anders. Arnold Schwarzenegger zum Beispiel war ein ganz Großer, und jetzt ist er ein ehemaliger Gouverneur. Wie würden Sie das Bekanntsein vor und nach Ihrer Wahl zum Bürgermeister vergleichen?

Ich weiß nicht, das Berühmtsein war mir in Island nie so richtig bewusst. Es ist auf seine Art zwar ein großes Land, aber auch ein so kleiner Ort, weil nur so wenige Menschen dort sind. Es ist in Island so einfach, berühmt zu werden. Ich habe Freunde in New York, die regelmäßig zu Besuch kommen. Manchmal sehen sie Poster von mir irgendwo hängen und sagen dann: „Wow, du bist echt so berühmt?“ Ich sage dann immer nur „Yeah...“.

Bringen Sie eigentlich immer noch Leute zum Lachen?

Ja.


In welchen Situationen?

Ich produziere nach wie vor meine wöchentliche Comedyshow.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2011)

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