Delikatessen von der Straße

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Jonathan McGowan isst täglich Fleisch, hat aber seit Jahren keines mehr gekauft und seit Jahrzehnten nichts mehr geschossen. Er verzehrt Roadkill - tote Tiere vom Straßenrand.

Mein erster Roadkill war eine Schlange“, sagt Jonathan McGowan. Der 44-jährige Naturschutzberater, Musiker und Präparator isst seit fast dreißig Jahren überfahrene Tiere. Als 15-Jähriger fand der Brite eine Viper am Straßenrand und häutete sie, „weil ich die Haut aufbewahren wollte“. Das Fleisch hat er angebraten und gegessen. „Heimlich, weil meine Eltern das nicht herausfinden durften.“

Dass Menschen überfahrene Tiere von der Straße aufsammeln, kommt gar nicht so selten vor. Vor allem in England, Australien und Nordamerika gibt es eine „Roadkill“-Subkultur. Auf den Straßen Großbritanniens sterben jedes Jahr etwa eine Million Säugetiere sowie zehn Millionen Fasane und andere Vögel. Und auch in Österreich fallen Jahr für Jahr Wildtiere den Stoßstangen zum Opfer – allein in der Jagdsaison 2010/11 waren es fast 69.000.

Einmal die Woche sucht Jonathan McGowan die Straßen nach Roadkill ab. Die beste Zeit für die Jagd nach dem Fallwild ist am Vormittag – dem Pendlerverkehr fallen erfahrungsgemäß die meisten Tiere zum Opfer. Auf einer Strecke von circa 70 Kilometern findet er etwa ein Dutzend „brauchbare“ Tiere. Es gäbe noch mehr, aber die meisten Kadaver sind plattgedrückt. Und McGowan nimmt nur die Ganzen. An einem „guten Tag“ nimmt er vier bis sechs Fasane und Rebhühner, einen Feldhasen, ein paar Ratten und Kaninchen, ein Eichkätzchen, manchmal auch ein Reh oder den einen oder anderen Fuchs oder Dachs mit.


Nicht umsonst gestorben. McGowan kauft kein Fleisch im Supermarkt, er hasst Gewalt gegen Tiere. Weil er aber gern Fleisch isst, scheint die Lösung für ihn perfekt: Er isst ausschließlich Roadkill. Man könnte sagen, er ist das karnivore Pendant zu den Fructariern – sie essen nur, was vom Baum gefallen ist. „Außerdem“, meint er, „tue ich der Gemeinde einen Gefallen, indem ich die Kadaver von der Straße entferne.“ Sonst wären die Tiere umsonst gestorben und würden langsam auf der Straße verrotten. „Ich bin ein echter Aasfresser“, sagt McGowan.

Das Fleisch verkocht er selbst, meistens landet es in italienischen Gerichten. Fuchs-Lasagne ist eine seiner Lieblingsspeisen. Auch die Häute verwendet McGowan. „Ich liebe tote Dinge“, sagt der Tierpräparator. Unbeschädigte Tiere stopft er aus und verkauft oder verschenkt sie an das Museum von Bournemouth.

Fergus Drennan aus Kent spricht nicht gern von „Roadkill“. Die toten Tiere nennt er lieber „accidental meat“ („durch einen Unfall verursachtes Fleisch“). Seit seinem 22.Geburtstag ist er Vegetarier – „Roadkill“ ist die Ausnahme. In England kennt man den 40-Jährigen als „The Forager“ („der Wildbeuter“). 2007 ging er in seiner eigenen BBC-Serie „The Roadkill Chef“ auf Fallwildjagd. Heute hält Drennan Kurse darüber, wie man Nahrung in der Wildnis findet und zubereitet. Roadkill spielt dabei aber nur eine untergeordnete Rolle. In seinen Kursen erklärt er auch, worauf man bei den toten Tieren achten muss. Eine Rolle spielt etwa die Jahreszeit, aber auch der Zustand des Kadavers, also wie schwer er beschädigt ist.

„Natürlich bevorzuge ich frische Tiere, die nicht länger als ein oder zwei Tage tot sind“, sagt auch McGowan. „Aber im Winter verschmähe ich auch nicht, was schon ein oder zwei Wochen liegt.“ Die meisten Krankheiten und Parasiten würden durch das Kochen des Fleisches ohnehin abgetötet.

„Rohe Roadkill-Steaks sind nicht zu empfehlen“, warnt Ex-Fernsehkoch Drennan aber. Es sei wichtig, hygienisch vorzugehen, Handschuhe zu tragen und anschließend immer alles gut zu desinfizieren. Der optimale Fund hat keine äußeren Wunden, glänzende Augen und den Zustand der Totenstarre noch nicht überschritten. Ein aufgeblähter Darm dagegen ist kein gutes Zeichen. Manchmal, sagt McGowan, seien die Tiere von der Straße mit einer grauen Schicht aus Kohlenmonoxid überzogen. Aber: „Ist die Haut einmal abgezogen, ist es das pure, frische Fleisch. Außer bei schwer beschädigten Tieren, die überall offene Wunden haben, schmeckt man die Straße überhaupt nicht.“


Igel schmecken ranzig. Sein Lieblingsgericht ist Reh. Davon hat er immer zu viel in seinen drei Tiefkühltruhen. Er verschenkt das Fleisch an Freunde oder verfüttert es an wilde Tiere. Überhaupt nicht schmecken dagegen Otter („sehr fett“), Wiesel und Iltis („ekelhaft“) und Igel („irgendwie ranzig“). Überfahrene Frösche und Kröten schmecken angeblich (so wie ohnehin fast alles Ungewöhnliche) wie Huhn – nur eben etwas flacher.

Haustiere nimmt McGowan auf seinen Rundgängen allerdings nicht mit. Weil sie jemandem gehören, das müsse man respektieren. Nur ein einziges Mal hat er einen überfahrenen Retriever gegessen. Der schmeckte nach Dosenfutter – „ekelhaft“. Auch Fergus Drennan aß nur ein einziges Mal eine Katze. „Sie muss ausschließlich mit Thunfisch gefüttert worden sein, so sehr schmeckte sie danach“, sagt er. „Es war irritierend.“


Roadkill gehört dem Jäger. Vorausgesetzt, man hat einen passenden Kadaver gefunden: Darf man ihn mit nach Hause nehmen und aufessen? Überfahrene Tiere gehören in Großbritannien dem Eigentümer des Bodens, auf dem sie verendet sind. Nimmt man das Tier ohne Erlaubnis mit, begeht man Diebstahl. „Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass man angezeigt wird“, meint Drennan. Auch McGowan hatte noch nie Probleme mit der Polizei.

In Österreich gilt das Jagdrecht auch bei überfahrenen Tieren. Der für das Gebiet zuständige Jäger ist Eigentümer des Fallwildes. „Bei Nahrungsmitteln haben wir klare Regeln“, sagt Alois Gansterer von der Zentralstelle Österreichischer Landesjagdverbände. Erstens sei überfahrenes Wild nicht zum Verzehr geeignet, zweitens habe nur der Jäger des Reviers das Recht, es mitzunehmen. Wer in Österreich ein überfahrenes Reh in den Kofferraum packt, begeht Diebstahl.

Vom Jagdrecht ausgenommen sind Schädlinge wie Mäuse und Ratten, die laut McGowan ganz vorzüglich schmecken. Auch der überfahrene Igel steht zur freien Entnahme. Aber der schmeckt ja nicht so gut. „Ich bin mir sicher, dass Menschen auch in Österreich Roadkill essen“, sagt Drennan. „Wenn es illegal ist, werden sie es aber wohl nicht herumerzählen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2011)

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