Die Sucht nach dem Stoff, aus dem die Träume sind

Der Skandalroman »Shades of Grey« steht in der literarischen Tradition der »romance«: Liebe siegt, Liebe heilt.

Mittlerweile scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass der sehnsüchtig erwartete, vor ein paar Tagen erschienene, in violetten Samt gebundene Skandal- und Erfolgsroman „Shades of Grey“ von E. L. James ein pornografischer Roman ist: Ganze Heerscharen von Frauen, von Studentinnen auf den Elitecolleges bis zu den Mamis in den Suburbs machen es wie die Männer und stürzen sich lustvoll in Pornografie. Zu allem Überfluss träumen sie dabei nach zu viel emanzipierter Selbstbestimmung und zu viel Erfolg im Beruf nach völliger Unterwerfung unter den starken, reichen Mann.

Vorhersehbare Orgasmen. Aber wird ein neuer, pornografischer Renner tatsächlich so kollektiv herbeigesehnt? Kennt man das von pornografischen Romanen, dass Tausende von Frauen es kaum erwarten können, sich ihrem geheimen Verlangen hinzugeben und sich von dem Herrn mit den gefährlich glitzernden grauen Augen in sein Spielzimmer zu verbundenen Augen und Peitschenhieben entführen zu lassen? Die alles vergessen, um fiebrig an den mit der Vorhersagbarkeit eines Uhrwerks einsetzenden Orgasmen von Anastasia teilzuhaben, deren einziges Begehren es ist, ihm zu Gefallen zu sein? Pornografie, ein Roman, dessen unwiderstehlicher Reiz sich wie ein Lauffeuer zuerst durch Mundpropaganda im Netz verbreitete? Auf den sich Hunderttausende stürzen und ihn zum Bestseller schlechthin machen?

Irgendetwas an diesem Szenario kommt einem bekannt, allzu bekannt vor. Diese Sucht nach dem Stoff, aus dem die Träume sind. Mit dem man sich von der Welt verabschieden kann, in den man eintaucht und für Tage nicht mehr ansprechbar versunken auf der Couch liegt. Und plötzlich macht es Klick: das Lesen, nein das Verschlingen von Julia-Romanen in den Ferien im Bett. Romane, auf dessen Cover unweigerlich ein dunkler, mysteriöser, muskulöser Latin Lover eine fast barbusige, heftig atmende Blondine gleich durch einen leidenschaftlichen Kuss in wollüstige Ohnmacht sinken lassen wird. Rhett Butler, der die widerspenstig in seinen Armen windende Scarlett O'Hara keuchend vor Begehren ins Bett trägt; überwältigt unterliegt sie ihm. Der Schrei der Heldin Dr. Maud Bailey in A. S. Byatts „Possession“, der sie endlich, endlich in den Armen des unwiderstehlichen Ash in Lustschmerz vergehen lässt.

Pornografie? Was für eine gespenstische Fehlinterpretation. Hier geht es um den ureigensten Stoff des Romans, des „romanzero“, der „romance“. Und es geht nur um eines: um den so totalen wie strahlenden Triumph des Eros auf ganzer Linie. Liebe siegt. Erbarmungslos schlägt sie alle ohne Ansehen der Person ganz demokratisch in Fesseln: die stolzesten Frauen, die Herren des Universums. Der „romanzero“, der diese frohe Botschaft des totalen Triumphes der Liebe verkündet, ist nicht wie die anspruchsvolleren Bücher auf Latein geschrieben, sondern in der Volkssprache für die des Lateins eben nicht mächtigen Frauen. Als triviale Gattung geboren, eignete sie sich wie keine andere zur Trivialisierung: siehe Bahnhofskiosk mit den muskulösen, mysteriösen braun gebrannten Männern. Dieser Stoff, aus dem die weiblichen Träume sind, wird heute offensichtlich nicht mehr bloß in Bahnhofsbuchhandlungen, sondern im Netz verkauft.
Verdorben fürs Leben. Frauen haben diese Literatur immer schon sehnsüchtig erwartet und hingebungsvoll verschlungen. Immer schon sind sie dafür von den Autoritäten getadelt worden: Die hinreißenden Prinzen verdarben sie für das wirkliche Leben mit seinen nicht immer hinreißenden Männern. Entweder verschwinden die Frauen im Lesefieber oder im Liebestaumel. Hals über Kopf stürzen sie sich, kaum ist der Roman beendet, in eine so blinde wie ehebrecherische „aventure“.

Jeder Roman, der etwas auf sich hielt, muss deswegen Antiroman sein. Er stellt die Verblendetheit solcher Leidenschaft dar und klärt über die Folgen auf: siehe Madame Bovary, siehe Anna Karenina.

Mit dem 18. Jahrhundert wurde die „romance“ die englische Gattung par excellence. Gründlich reformiert, sollte er nun die Moral befördern. Nicht nur seine Leserinnen, auch seine Autorinnen waren jetzt oft weiblich. Deshalb zieht es Anastasia aus „Shades of Grey“ auch in das Land des Ursprungs ihrer Gattung: Sie, die Nordamerika nie verlassen hat, möchte das Land von Jane Austen, Thomas Hardy, Samuel Richardson besuchen.

Klassenkampf. Im 18. Jahrhundert wurde der „romanzo“ nicht mehr bloß zu einem wilden, von unwiderstehlichem Begehren gepeitschten Hindernislauf um die meistens ebenbürtige, umwerfende Geliebte, sondern zu einer Konversionsgeschichte: Klassenkampf unter dem Deckmantel der Moral. Mit „Pamela“ schrieb Samuel Richardson das wohl erfolgreichste Beispiel der Gattung. Bekehrt wurde der pornografische, der libertine Aristokrat – die damalige Version des Kapitalisten, Meisters des Universums – zum zärtlichen Geliebten und treusorgenden Ehemann. Bekehrt wurde er von einem so jungfräulichen, wie hingebungsvoll liebenden, aber eben so tugendhaften wie mittellosen, bürgerlichen Mädchen. Für eine Affäre ist sie nicht zu haben. Sie macht es nicht einmal eben hier und da mit diesem und jenem, sondern will Sex mit Liebe in der Ehe verbinden. Was sich gut trifft, weil sie dadurch gesellschaftlich aufsteigt. Bürgerlich tugendhafter Sexappeal, der erst in der ständigen Überprüfung seiner Tugend, der mit allen Mitteln zu Leibe gerückt wird, hypersexuell wird, schlägt adelige frivole, liebesunfähige Weiblichkeit aus dem Feld.

Pornografie fördert Moral. In eben dieser Tradition steht „Shades of Grey“. Grey wird nicht nur bekehrt, sondern sogar noch in dem, was man vielleicht weniger SM als Anas Sexualtherapie nennen sollte, geheilt. Pornografie befördert hier die Moral. Geheilt muss er werden, weil er wie oft auch der adelige Libertin von einer Frau, einer Domina, mit fünfzehn zum Liebessklaven gemacht wurde. Zwanghaft bleibt er an die Wiederholung dieses Szenarios gefesselt. Sie, die hingegebene Jungfrau, verwandelt die tatsächlichen Fesseln, die Wunden in metaphorische Wunden und Fesseln der Liebe. Vom Libertin wird er zum Liebhaber.

Was für eine Zeit, die in so viel auf die neuesten juristischen und hygienischen Standards gebrachter Erbaulichkeit Pornografie sieht! Liebe heilt, indem sie siegt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2012)

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