Wenn das Kind nicht essen will

(c) AP (Barbara J. Perenic)
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Eltern fehlt zusehends die Intuition, wie viel ihre Kinder essen sollten. Stattdessen verlassen sie sich auf die Packungsgrößen der Industrie. Das kann bis zu frühkindlicher Magersucht führen.

Es ist 12 Uhr. Der kleine Massimiliano ist hungrig. Gierig beißt er von seiner Banane ab. Zwei Mal, drei Mal, vier Mal. Seine Backen sind prall gefüllt, der nächste Bissen wird im kleinen Mund des Fünfjährigen keinen Platz mehr finden. Mit vor Verzweiflung geweiteten Augen deutet er auf seine Wangen und – anstatt zu schlucken – öffnet er seinen Mund und spuckt die Banane unzerkaut wieder aus. Er hat panische Angst vor dem Schlucken. Seine Eltern sitzen scheinbar teilnahmslos daneben und widmen sich seelenruhig ihrem Mittagessen. Das hat System.

Beim „Spielessen“ an der Universitätskinderklinik Graz ist es Eltern verboten, sich in das Essverhalten ihrer Kinder einzumischen oder auch nur darüber zu sprechen. Der Raum ist mit Leintüchern ausgelegt, am Boden findet sich eine bunte Mischung an Nahrungsangebot. Neben Massimiliano sitzt der neun Jahre alte Achmed und schiebt sich zögerlich ein Stückchen Kartoffel nach dem anderen in den Mund. Seine Mutter strahlt. Noch bis vor einer Woche hat ihr Sohn, nach vielen Operationen seit seiner Geburt, Nahrung ausschließlich per Magensonde zu sich genommen.


Sauce in den Haaren. Eltern, die für gewöhnlich auf schwierige Esser übereifrig reagieren, sitzen scheinbar untätig am Zimmerrand und beobachten mit mühsam bewahrter Contenance ihre Kinder bei der Nahrungsaufnahme. Denn erlaubt ist hier alles. Sauce in die Haare schmieren, mit den Fingern essen oder am liebsten alles durcheinander? Kein Problem. Hauptsache, die kleinen Patienten erkennen, dass sie selbst aktiv werden können und sollen und dass Essen Freude macht. Dass nicht doch schnell eine Mama dem Sprössling einen Löffel in den Mund schiebt oder ein Papa mit der Serviette Essensreste aus dem Gesicht entfernt, dafür sorgen Marguerite Dunitz-Scheer und Peter Scheer, die die Psychosomatische Station schon seit Jahrzehnten leiten.

Die interdisziplinär geführte Station in Graz ist weltweit Vorreiter, wenn es um die Entwöhnung von Magensonden bei Kindern und die Behandlung frühkindlicher Essstörungen geht. Und davon gibt es mehr als gedacht, mit Ursachen in den unterschiedlichsten Bereichen: medizinische Probleme wie Gaumenspalten, angeborene und/oder erfolgreich operierte Fehlbildungen und Kinder nach Organtransplantationen gehören ebenso dazu wie depressive Mütter oder überengagierte Eltern mit Kontrollzwang. Das sind zum Beispiel die, die nicht akzeptieren können, dass die von Nestlé, Milupa oder Hipp als ideale Mahlzeit berechnete Glasgröße möglicherweise nicht den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes entspricht.

„Eltern fehlt zunehmend das Vertrauen in die eigene Intuition“, sagt Dunitz-Scheer. „Das Thema Essen ist ein so dominanter Teil unseres Lebens geworden, dass uns die Nahrungsmittelindustrie einer regelrechten Gehirnwäsche unterzieht. Je kontrollierter wir essen, desto besser. Das führt so weit, dass Mütter sich weigern, nicht zur Gänze geleerte Gläser wegzuschmeißen und sie stattdessen ihren längst satten Kindern um jeden Preis in den Mund schieben.“ Das macht nicht jeder mit.


Hungern bis zum Tod. Denn bereits im zweiten Lebenshalbjahr akzeptieren manche Kinder nicht, wenn ihre Bedürfnisse derart missachtet werden und treten bisweilen aktiv in den Hungerstreik. Steuert man nicht adäquat gegen, kann das in einer frühkindlichen Magersucht enden. „Das Gewicht von Kindern in diesem Alter fällt innerhalb weniger Tage bis Wochen stark ab“, sagt Dunitz-Scheer. „Wenn es sein muss, hungern sie bis zum Tod, um sich gegen die Zwangsfütterung durchzusetzen.“ Um den Abwärtstrend zu stoppen, greift man in der Schulmedizin zur Magensonde. Damit scheint vorerst alles gelöst. Das vormals renitente Kind nimmt zu, die Eltern können minutiös kontrollieren, wann der Nachwuchs wie viele Kalorien zu sich nimmt. Und alles ist wieder gut? Eben nicht. Allzu schnell schlittert die gesamte Familie in eine psychische Abhängigkeit von der Sonde. „Magensonden werden oftmals mit guter Ansicht, aber ohne Exit-Strategie gelegt“, sagt Dunitz-Scheer. „Ebenso wichtig wie die Therapie der Kinder ist in solchen Fällen auch die der Eltern.“

Die Sondenentwöhnung verläuft nach einem nach außen hin simplen Prinzip. „Das Kind muss begreifen, wie sich Hunger anfühlt. Nur so kann es das Bedürfnis nach Nahrung entwickeln“, erklärt Dunitz-Scheer. „Weiters versuchen wir seine Autonomie zu stärken und die Familie bestmöglich zu begleiten. Je mehr Familienmitglieder anwesend sind, desto besser verstehen wir die Mechanismen und können helfen. Die Rückkehr in den Alltag wird so für alle einfacher.“

Das diesbezügliche Angebot an der Grazer Uni-Klinik ist breit gefächert: von Physio- und Ergotherapie über Logo- und Spieltherapie bis zu Schwimmeinheiten und gemeinsamen Picknicks und Mahlzeiten. Für die Eltern gibt es außerdem psychotherapeutische Sitzungen. „Oft kommt es bei uns zum totalen Zusammenbruch der Eltern“, sagt Dunitz-Scheer. „Wir wollen Halt und Selbstvertrauen vermitteln. Das brauchen die Eltern, wenn sie mit ihrem Kind nach zwei bis drei Wochen wieder nach Hause gehen.“

Bei manchen Kindern kommt es allerdings gar nicht so weit – sie bleiben gleich zu Hause. Denn nicht jeder kann sich die Anfahrt oder den Aufenthalt in Graz auch leisten. Und obwohl heute bereits mehr als die Hälfte der stationären Patienten aus dem Ausland kommen – kleine Österreicher werden meist ambulant betreut – war die Menge an Anfragen aus der ganzen Welt in den Klinikräumen nicht zu bewältigen. Also wurde eine Tele-Therapie namens „netCoaching“ entwickelt. Was auf den ersten Blick realitätsfremd wirkt, hat in der Praxis vielversprechenden Erfolg. Familien von Australien bis Kanada und Südafrika können sich – so sie den Aufnahmekriterien entsprechen – online für eine Therapie anmelden.

Mittels Videos und Ernährungsprotokollen wird die Eignung zur Sondenentwöhnung – Stichwort „NoTube“ – bestimmt, die Supervision durch einen örtlichen Kinderarzt ist obligatorisch. Über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen macht das NoTube-Team zwei Mal täglich eine E-Mail-Visite bei Familien rund um die Erde. Immer wieder schicken Eltern Videos ihrer Kinder und erzählen, welche Fortschritte bei der Entwöhnung zu beobachten sind. Nach einem Monat sind laut Statistik über 90 Prozent der Kinder in der Lage, sich nach der Tele-Entwöhnung ausreichend und sondenfrei zu ernähren.


Eltern müssen Vertrauen lernen. „Die Rolle der Eltern ist nicht, Vorgaben zu machen, sondern ein authentisches Modell zu sein; im Leben im Allgemeinen und eben genauso auch bezüglich Kochkultur und Essverhalten“, sagt Dunitz-Scheer. Vertrauen haben, zu sich und dem Kind. Jede Intervention im angeborenen Prozess des Essenlernens ist eine Störung. Das ist, als würde jemand uns erklären wollen, wann wir wo und wie auf's Klo zu gehen haben. Finger weg, die Kinder machen das meist sehr gut allein.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2012)

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