Als das Schicksal noch nicht auf Facebook war

So mancher unbekannte Schöne lief einem auch zu Zeiten über den Weg, als von einem elektronischen Fangnetz noch keine Rede sein konnte. Und manchmal ging es damals mehr um die Suche als ums Finden.

Jeder Satz, der mit „früher“ beginnt, ist Menschen unter 25 grundsätzlich suspekt. Verständlich, in dem Alter ist „früher“ etwas, was nur Eltern oder Großeltern erlebt haben können – und damit will man unter 25 möglichst wenig zu tun haben. Und doch, die Zeiten, in denen das Schicksal noch nicht auf Facebook war, hatten schon auch ihren eigenen Reiz.

Auch damals traf man sich per Zufall, zum Beispiel auf einem Fest, zu dem man zumindest mehr oder weniger eingeladen war und mit einer Freundin als Rückendeckung anrückte, in der Hoffnung, er könnte vielleicht auch da sein. Und wirklich, der Abend war toll, man verstand sich, als hätte man immer schon aufeinander gewartet – doch leider, leider, das mit der Telefonnummer vergaßen beide oder waren zu schüchtern oder einfach zu blau. Also blieb nichts anderes übrig als a) zu träumen, dass er doch irgendwie die Adresse herausbekommen würde und plötzlich vor der Tür stehen könnte und b) nachdem auch drei Tage später niemand geklingelt hatte, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Das Treffen unter der Treppe. Irgendeinen Ansatzpunkt fand man immer, irgendwo und mit irgendwem hatte man ihn schon einmal gesehen. Also lernte man die Kunst, möglichst unauffällige und diskrete Fragen zu stellen, denn blamieren wollte man sich ja auch nicht unbedingt. Viele Kilometer wurden zurückgelegt, zwischen der Mensa, der Bibliothek, den Cafés rund um die Uni, zwischen Instituten und Vorlesungssälen; man saß in Gängen, graste umliegende Büchergeschäfte ab und probierte im Säulengang eine Steinbank nach der anderen durch. Irgendwann gab man auf. Und dann, plötzlich, auf einer Bank unter einem Treppenabsatz: „Hallo“, sagte er, „ich habe dich überall gesucht.“

Wenn die in die Pubertät hinein- und wieder herausgewachsene Nachkommenschaft solche Geschichten hört, erinnert ihr Gesichtsausdruck an den, mit dem sie sich Jahr für Jahr am Heiligen Abend durch „Tatsächlich Liebe“ seufzen. Da wird viel geschluckt, viel „moiii“ gehaucht und viel nachgefragt. Und die, die erzählt hat, fragt sich auch: ob es in Zukunft solche Geschichten geben wird – Geschichten, die man sich merkt, weil sie mühsam waren, weil sie ungewiss waren, weil sie Zeit und Einfallsreichtum forderten. Oder ob dieses besondere Gedächtnis durch Facebook gelöscht werden wird. Gefällt mir nicht!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.01.2013)

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