Von der Kunst, heiter und gelassen älter zu werden

 The German philosopher Wilhelm Schmid at the 2013 Leipzig Book Fair.
The German philosopher Wilhelm Schmid at the 2013 Leipzig Book Fair.(c) J. R. Schmid
  • Drucken

Topthema der Antike, lange vergessen – im Verdacht der Moderne, dem ewigen Streben im Weg zu stehen, ist sie nun Ziel großer Sehnsüchte: Gelassenheit als Antithese zum gestressten Zeitgeist.

Es scheint so etwas wie das Modewort der Stunde in der Selbsthilfeliteratur zu sein. Knapp 2000 (deutschsprachige) Bücher findet man aktuell auf Amazon zum Stichwort – vom „Einmaleins der Gelassenheit“ und den „Sieben Geheimnissen der Schildkröte“, die dahin führen sollen, über Meditation, die „Gelassen wie ein Buddha“ machen soll, bis hin zu philosophischen Betrachtungen. Gelassenheit als Antithese zu Zeitgeistthemen wie Burn-out, Überforderung und Stress.

Die Sehnsucht nach Gelassenheit, so sagt der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid, sei „überbordend groß“, das habe sich für ihn schnell herausgestellt, als er begann, darüber sein Buch zu schreiben (siehe Infobox). „Die Moderne“, sagt er, wühle die Menschen dermaßen auf, wirble ihr Leben durcheinander, dass die Sehnsucht danach wächst. Die sei schließlich immer nach dem am größten, was man nicht hat. „Das hat mit der Zeit zu tun, in der wir leben, einer umtriebigen, nervösen Zeit, keiner gelassenen Zeit“, sagt Schmid.


Das Ideal der Seelenruhe.
Dabei ist die große Suche nach der Gelassenheit alles andere als neu. Seit der Ataraxia, dem Ideal der Seelenruhe Epikurs, war Gelassenheit wesentliches Thema der Philosophie. Epikur, der Glücksphilosoph der Antike, quasi Wegbereiter der zeitgenössischen Ratgeberliteratur. In der christlichen Theologie wurde sie mit Meister Eckharts Gelâzenheit im 13. Jh. zum Thema, der schrieb vom „lâzen“. Vom Überwinden von Denk- und Handlungsstrukturen, vom Aufgeben der Weltbindung: „Man muss sich selbst und die ganze Welt lazen.“

In der Moderne aber geriet das in Vergessenheit, „sie fiel dem stürmischen Aktivismus, dem wissenschaftlich-technischen Optimismus zum Opfer“, sagt Schmid. Ihre Zurückhaltung galt als Tugend, simulierte Coolness trat an ihre Stelle. Schmid, selbst lange ein Ehrgeiziger, ein Gestresster, hat vor einem Jahr die große Sehnsucht nach Gelassenheit entdeckt. Damals, kurz vor seinem Sechziger, als das „große Entsetzen, der Schrecken“ über das Älterwerden über ihn hereingebrochen ist, wie er im Gespräch erzählt (siehe Interview). Mittlerweile ist der Schrecken passé, Schmid lacht darüber, erzählt von seinem Weg zu mehr Gelassenheit – und zehn Schritten, die er für diesen ausfindig gemacht hat.

Denn gerade dieses, sein Alter, sagt er, sei quasi vorbestimmt fürs Gelassenwerden. Aber weil das Älterwerden heute eine stürmische Zeit geworden ist, gelinge das nicht mehr so einfach. Seine zehn Schritte, die beginnen damit, die Phasen des Lebens zu akzeptieren. Ihre Unterschiede, ihre Qualitäten. Und, Polaritäten anzunehmen: Das ewige Pendeln zwischen Freude und Ärger, Angst und Hoffnung, Sehnsucht und Enttäuschung. Und dafür müsse man die Eigenheiten des Alt- und Älterwerdens verstehen. Das heißt auch, sich mit dem kleinen Wörtchen „noch“ anzufreunden, sagt Schmid. Noch gesund zu sein, noch genug Zeit und Kraft zu haben. Und das Schwinden von Zeit und Kraft zu akzeptieren.


Von Gewohnheiten und neuer Lust.
Fragen, die sich oft mit 60 auftun: Er selbst, erzählt Schmid, habe zuvor kaum mit dem Älterwerden gehadert. „Ich war mir darüber sehr im Klaren. Meine Mutter ist vor fünf Jahren, mit 88, gestorben. Sie hat Älterwerden mit einer Gelassenheit vorgelebt – so kam ich überhaupt auf die Idee, das könnte erstrebenswert sein –, das war phänomenal. Verbunden mit Heiterkeit, was aber immer der Fall ist. Gelassenheit und Heiterkeit sind verschwistert. Insofern hat mir das Älterwerden keine Angst gemacht.“ Umso überraschter war er vom „großen Entsetzen“ mit 60. Nun spricht Schmid von seiner Mutter als Inspiration für einige seiner zehn Schritte: Freundschaften und Beziehungen zu pflegen, Berührungen gerade im Alter zu suchen, obwohl seine Mutter lange Zeit keine Berührung zugelassen hatte. Oder, Gewohnheiten zu pflegen, „darin zu wohnen“, sich führen zu lassen von all dem, was schon entschieden ist, das sei Lebenskunst. Und, vor dem Hintergrund der Gewohnheiten aufgeschlossen zu bleiben für Neues. Auch, für den Genuss von (neuen) Lüsten und Glück, einer von Schmids Schritten. Von „bescheidenen Lüsten, die sich jetzt hervorwagen, da orgastische Orkane vorüber sind.“ Der Espresso, das Glas Wein. Im Wissen, sie werden nicht mehr endlos viele Male zu genießen sein.

Zu seinem Weg gehört auch, mit unvermeidlichen Schmerzen und Unglück einen Umgang zu finden, die Hinnahmefähigkeit zu stärken. Oder, sich mit Tod und Endlichkeit zu befassen – und diese, so der zehnte Schritt, zu überwinden. „Das scheint mir der Fall zu sein, wenn Menschen zur Auffassung kommen, vielleicht ist es nicht so, dass nach dem Leben nichts mehr kommt.“ Dann sei es möglich, sich dem großen Ganzen anzuvertrauen, „in dem mein kleines Leben aufgehoben ist, dann kommt nicht mehr alles darauf an, dass dieses Leben gelingt und so lange wie möglich dauert“, sagt er. „Ich möchte Menschen anregen: Schau doch zu den Sternen. Ist das Endlichkeit oder Unendlichkeit? Sind wir durch eine Betonmauer von dieser Unendlichkeit getrennt? Kann ich mir nicht vorstellen“, sagt er. Religion? „Das ist die Rückbesinnung auf etwas Wesentliches, das unserem Leben zugrunde liegt. Das kann der Kosmos sein, das muss nicht Gott sein. Die einen nennen es so, die anderen anders. Für mich gibt es da keine Unterschiede.“

Aber es gibt auch simplere Helfer, um das nähere Lebensende anzunehmen: Kinder. „Es ist ein großer Trost beim Älterwerden, heranwachsendes Leben zu sehen, dann fühlen Sie sich in einen Kreislauf eingebunden“, sagt Schmid. Der Kontakt zu Jungen schließe einen Kreis, „es ist nicht schlimm, dass mein Leben vergeht, es entsteht ja neues Leben.“ Gelassenheit in zehn Schritten – das ist nicht neu. Zehn Gebote der Gelassenheit, der Dekalog der Gelassenheit, kennt man auch in der Kirche. Sie werden Papst Johannes XXIII. zugeschrieben, es sind Leitsätze für eine unkomplizierte Lebensweise, die stets mit „Nur für heute . . .“ einleiten. Zum Leben, zum Glück, Realismus, zum Handeln, Mut oder Vertrauen. Es sind Leitsätze, die heute in den Statuten von Selbsthilfegruppen stehen.


Begriffsgeschichte als subtile Hilfe. Selbsthilfe-Leitlinien bietet Thomas Strässle – zumindest vordergründig – nicht, der Literaturwissenschaftler hat sich in seinem Buch „Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt“ besonnen auf die Suche nach der Bedeutung gemacht. Gelassenheit als Wort, für das es kein wirklich passendes anderssprachiges Pendent gibt.

Über den Zustand, dem einen das Nachdenken über das Verb „lassen“ näher bringen kann. Ein „ominöses Faszinosum“ einer „Gesellschaft der Erschöpften“, die sich mitunter gelassen gebe. Gelassenheit als Mode, als Form der Selbstdarstellung, die deshalb zum „Losungswort“ wurde, weil der Begriff so unscharf ist. Das klärt Strässle mit seiner philosophisch-literarischen Begriffsgeschichte, die ganz alltägliche Einsichten über Gelassenheit enthält.

Mit Souveränität – und bemerkenswerter Gelassenheit – hat sich Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen mit dem Älterwerden beschäftigt, geht der Frage nach, wie sich das Alter anfühlt, was man verliert, was man gewinnt. Was macht es mit einem, wenn man den eigenen Körper verfallen sieht, wie sieht das Leben im Rückblick aus, wie ändert sich der Begriff Zeit? Und, man findet Parallelen zu Wilhelm Schmid. Wenn sie schreibt, was man unweigerlich verliert: Schönheit, Kraft, Zeit. Über das, was bleibt, wertvoller wird, wenn Zeit knapper wird: Liebe, Freundschaft, Lust an gutem Essen, Musik, an angenehmer Gesellschaft. Und, es war auch bei Silvia Bovenschen das Alter um die 60, als sie ihr Buch schrieb.

Und wie geht es nach der 60 weiter? „Ich würde sagen, die Arbeit am Buch hat gewirkt“, sagt Schmid, lacht über damalige „Aufruhr“, spricht von neuen Einsichten und Orientierung. Was rät er jemandem, der in so einer Krise steckt? „Sich vor Augen zu führen, in welcher Phase befinde ich mich: Als 60-Jähriger wie ein 40-Jähriger sein zu wollen macht viel Stress. Das kann man auch einfacher haben: Einverstanden sein mit der Phase, in der man lebt.“

Gelassenheit und Älterwerden

Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt von Thomas Strässle (17,90 Euro) ist im Carl-Hanser-Verlag München erschienen. Ein kluger und lehrreicher Essay des Schweizer Literaturwissenschaftlers über die Geschichte und Bedeutung des Begriffs, der einen Zustand, eine Fähigkeit, Haltung und eine Handlung zugleich beschreibt.

Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden von Wilhelm Schmid (acht Euro) ist im Insel-Verlag Berlin erschienen. Der Berliner Philosoph stellt darin zehn Schritte für den Weg zu mehr Gelassenheit beim Älterwerden vor.

Älter werden: Notizen (Verlag S. Fischer, 17,90 Euro). Die Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Silvia Bovenschen stellt mit bemerkenswerter Gelassenheit die Frage, wie sich das Altern anfühlt, was man dabei gewinnt und wie man akzeptiert, was man vielleicht verliert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Wilhelm Schmid
Salon

Wilhelm Schmid: "Gongschlag 60 ist das große Entsetzen hereingebrochen"

Wilhelm Schmid über Schocks und heitere Gelassenheit im Alter, Lobhudelei über Zufriedenheit als Fehler und Ratgeber als Religionsersatz.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.