Tusk: „September 1939 darf sich nicht wiederholen“

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Polens Premier Tusk stellte beim Gedenken an den zweiten Weltkrieg, starke Bezüge zur Ukraine-Krise her. Auch historisch steht Moskau im Zentrum.Polen wartet noch auf eine Entschuldigung für den Hitler-Stalin-Pakt.

Danzig. Wielun oder Westerplatte? Noch immer streiten sich manche Polen über Nebensächlichkeiten in diesem Krieg, der das Antlitz des nach 123 Jahren Teilung gerade erst wiedergeborenen Staates radikal verändern sollte. Eingebürgert hat sich die Sicht, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September morgens um 05.45 Uhr mit dem Beschuss des polnischen Munitionsdepots auf der Danzig vorgelagerten Halbinsel Westerplatte begann.

Die Schüsse kamen ausgerechnet von dem sich auf Freundschaftsbesuch befindenden deutschen Schulschiff Schleswig-Holstein. Die polnische Bewachungsmannschaft, rund 200 Mann, verteidigte sich trotz der militärisch völlig aussichtslosen Lage sieben Tage lang. Romantischer Heldenmut und Opfermythos werden seitdem in polnischen Memoiren, Erzählungen und Verfilmungen einzelner Kriegsabschnitte immer wieder angerufen.

Vor ein paar Jahren jedoch hat das Warschauer Militärarchiv Dokumente veröffentlicht, die einen weit weniger verklärten Blick auf den Kriegsbeginn ermöglichen. Begonnen hat demnach Hitlers Überfall auf Polen wenige Minuten früher, mit der Massenbombardierung der militärisch bedeutungslosen südpolnischen Stadt Wielun. Rund 1200 Zivilisten wurden dabei großteils im Schlaf ermordet, hoch technisiert, und die Polen hatten keine Chance auf mutige Gegenwehr und romantisch verklärten Widerstand.

Sowjetischer Dolchstoß

Der polnische Premier, Donald Tusk, stand Montagfrüh jedenfalls auf der Westerplatte, um des Kriegsausbruchs vor 75 Jahren zu gedenken. Jetzt sei nicht die Zeit für schöne Worte, sagte der neue EU-Ratspräsident und bezog sich damit auf die Ukraine-Krise. „Wenn wir auf die Tragödie der Ukrainer blicken, auf den Krieg im Osten unseres Kontinents, wissen wir, dass der September 1939 sich nicht wiederholen darf.“ Es sei noch Zeit, jenen Einhalt zu gebieten, für die Gewalt zum Arsenal des Handelns gehöre.

Russland steht für Polen auch im Zentrum des Erinnerns. In den vergangenen 25 Jahren ist das Wesen des doppelten Überfalls wichtiger geworden. Da ist der 1. September 1939, als Hitlers Armeen von Westen her auf die Hauptstadt, Warschau, und weiter östlich bis zum Bug marschierten. Und da ist der sowjetische „Dolchstoß“ in den Rücken vom 17. September. Dieser Zangenangriff wird in der westlichen Kriegswahrnehmung oft ausgeblendet, im polnischen Bewusstsein hat er indes tiefe Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken.

Den sowjetischen Angriff auf Polen vereinbart hatten Hitler und Stalin am 23. August 1939 in einem Geheimprotokoll zum Ribbentrop-Molotow-Pakt. Die beiden Diktatoren hatten sich zuvor auf genaue Einflusssphären geeinigt, die de facto einer vierten Teilung Polens gleichkamen. Das Gebiet Podlasien um die Stadt Bialystok, weite Teile des heutigen Weißrussland und der Ukraine sowie Vilnius, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte, waren in dem Geheimprotokoll der UdSSR zugewiesen worden. Anlass für den sowjetischen Überfall am 17. September 1939 war der angebliche Schutz von Russen, Weißrussen und Ukrainern in den polnischen Ostgebieten. Die meisten polnischen Einheiten ergaben sich der überlegenen Roten Armee kampflos, da der zuvor nach Rumänien geflohene Oberbefehlshaber, Edward Rydz-Smigly, ihnen verboten hatte, gegen die Sowjets zu kämpfen. Warschau fühlte sich immer noch an einen polnisch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1932 gebunden.

Schlichtes Gedenken mit Gauck

Polen wurde so zwischen den beiden Großmächten zermalmt, seine Armee nun auch von den Sowjets entwaffnet, interniert und die Kriegsgefangenen in die Sowjetunion abtransportiert. Die meisten von ihnen wurden im Oktober 1939 wieder freigelassen, doch etwa 15.000 Offiziere sowie 11.000 Zivilisten wurden im April 1940 vom NKWD exekutiert und zumeist in den Wäldern von Katyn unweit der russischen Stadt Smolensk verscharrt. Dazu kamen bis 1945 bis zu anderthalb Millionen nach Sibirien und Kasachstan Zwangsdeportierte. Bei der Neuordnung Europas nach dem Krieg verlor Polen trotz Westverschiebung über zwei Drittel seiner vormaligen Fläche und geriet für 44 Jahre unter die Fuchtel Moskaus.

Der Massenmord von Katyn wurde von den Sowjets auch lange nach Kriegsende noch den Deutschen angelastet. Auf eine Aufarbeitung dieses Kriegsverbrechens durch Russland als deren Rechtsnachfolgerin wartet Polen bis heute. Und der für viele Polen immer noch nicht vollständig aufgeklärte Flugzeugabsturz des zum 70. Jahrestag von Katyn nach Smolensk reisenden Staatspräsidenten, Lech Kaczyński, im April 2010 hat diese Wunden wieder neu aufgerissen.

Zumal 2009 Putin zwar eigens zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns auf die Westerplatte gereist war, die Polen indes vergebens auf eine Entschuldigung für die sowjetischen Kriegsgräuel von 1939/40 sowie den Hitler-Stalin-Pakt gewartet hatten. Statt sein Haupt zu senken, hatte Putin den Polen damals vielmehr den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 vorgehalten. Viele Mächte hätten eben in den Dreißigerjahren mit Hitler paktiert, der Molotow-Ribbentrop-Pakt und dessen geheimes Zusatzprotokoll seien deshalb zwar unmoralisch gewesen, aber zum damaligen Zeitpunkt die richtige Strategie, rechtfertigte sich Putin.

Von deutschen Politikern vernehmen die Polen auf der anderen Seite Schuldbekenntnisse und Entschuldigungen am Laufmeter. So verwundert nur mäßig, dass Staatspräsident Bronislaw Komorowski inmitten der aktuellen russisch-polnischen Spannungen um die Ukraine entschieden hat, den runden Gedenktag in schlichter Form einfach zusammen mit dem deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck zu begehen.

Polnische Urängste

Als Konstante der polnischen Politik bleibt bis heute der aus dem Kriegstrauma des Geheimpakts zwischen Hitler und Stalin gespeiste Verdacht, die Großmächte könnten erneut über die Köpfe der Polen hinweg entscheiden. So werden dieser Tage die deutsch-französischen Vermittlungsbemühungen im Ukraine-Konflikt ohne einen Einbezug Polens genauso kritisiert wie vor ein paar Jahren die Ostseepipeline zwischen Russland und Deutschland. Der heutige polnische Außenminister, Radoslaw Sikorski, hatte diese damals gar mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt verglichen.

Unter polnischen Historikern sind derzeit spekulative Alternativszenarien populär. Für die größten Kontroversen sorgt das Buch „Pakt Ribbentrop-Beck“. Piotr Zychowicz deckt unter dem Untertitel „Wie Polen an der Seite des Dritten Reiches die Sowjetunion hätte besiegen können“ Fehleinschätzungen des damaligen Außenministers, Jozef Beck, auf und widersetzt sich Opfermythen, indem er aufzeigt, dass Hitler lange polenfreundlich gewesen sei und Warschau viel gewonnen hätte, wenn es der Einverleibung Danzigs ins Deutsche Reich sowie einer Korridorautobahn auf Stelzen zugestimmt hätte, statt auf den Schutz Großbritanniens und Frankreichs zu vertrauen. Polen, argumentiert Zychowicz, hätte so auch – ähnlich wie Bulgarien – einen Großteil seiner während der Shoa ermordeten Juden retten können. Die These kam einem Tabubruch gleich und löste leidenschaftlichen Widerspruch aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2014)

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