Verschwitzte Luft in Larry Clarks "The Smell Of Us", Verwesung in Tsukamotos Extremkörperkino, Raubtierkapitalismus in Ramin Bahranis "99 Homes": Die Filmauswahl am Lido ist heuer frecher als in den Vorjahren.
Das Kino liebt die Krankheiten der Jugend. Kaum einer weiß das besser als Larry Clark: Dieser umstrittene Fotograf fasste die Geilheit und Naivität von hedonistischen Teenagern in New York City 1995 in seinem noch umstritteneren Spielfilmdebüt „Kids“ zusammen. Jetzt, gut zwei Jahrzehnte später, steht immer noch dieselbe Leere in den Gesichtern der Kinder, wenn der Exzess vorbei ist, wenn alle Drogen von ihren schlaksigen Körpern geschnupft, geraucht und gesoffen worden sind.
Clarks jüngster und angeblich letzter Film heißt „The Smell of Us“. Das Olfaktorische ist zentraler Sinnesreiz in diesem vom französischen Poeten S.C.R.I.B.E. mitgeschriebenen und daher drastisch lyrisch angelegten Bilderstrom: Alte Freier lutschen an verschwitzten Teenagerzehen, die Jungs greifen einander in den Schritt und riechen dann an ihren Händen, in den Underground-Clubs von Paris zerfließen die Tanzenden, während Fetischisten durch die Dunkelheit kriechen und die verschwitzte Luft einatmen. Clark postuliert das Riechen und Schmecken als sinnliche Utopie, die der unbedingten Käuflichkeit seiner (vorwiegend männlichen) Jugendlichen gegenübersteht: In Venedig, wo der Film in der Nebensektion „Venice Days“ seine Weltpremiere gefeiert hat, wurde Clark von vielen wieder einmal als altersgeiler Voyeur festgeschrieben. Er selbst eröffnet „The Smell of Us“ mit einem weit differenzierteren Bild seiner Beziehung zu den Jugendlichen. Als versiffter Penner, dem der schlechte Rotwein aus dem bärtigen Mund und über den dreckigen Körper rinnt, liegt er hinter dem Palais de Tokyo, dort, wo die Pariser Skater abhängen und wo er seine Hauptdarsteller kennengelernt hat. Die nehmen Anlauf und springen auf ihrem Board über den kaputten Regisseur. Die Krankheit der Jugend ist die der Alten ist die der Menschheit selbst...
Heuer weniger große US-Filme
Die 71. Filmfestspiele von Venedig sind in ihrer zweiten Hälfte angekommen, und man kann bereits sagen: Die Auswahl von Direktor Alberto Barbera und seinem Team ist heuer abenteuerlustiger, frecher, frischer als in den Vorjahren. Das mag auch daran liegen, dass das Festival heuer weniger große US-Produktionen auffährt: Die Studios sparen sich die extrem teuren Weltpremieren in Venedig, Erwartetes wie Paul Thomas Andersons Pynchon-Verfilmung „Inherent Vice“ oder David Finchers „Gone Girl“ debütiert beim New York Film Festival. Immerhin: Der aktuelle Spider-Man Andrew Garfield reiste an den Lido, um das Drama „99 Homes“ vorzustellen, das er auch mitproduziert hat. Regisseur Ramin Bahrani entwirft darin das Bild einer von Raubtierkapitalisten aus den Angeln gehobenen USA, wo ein junger Vater (Garfield) in die Armutsfalle gerät und sein Haus verliert, da er keine Arbeit findet.
Al Pacino spielt zweimal groß auf
Profiteur der Immobilienkrise – „99 Homes“ spielt im Jahr 2010 – ist Michael Shannons getriebener, ruchloser Makler, der im Auftrag der Regierung die geräumten Häuser aufkauft. Die Dampfhammermoral lauert bei diesem Stoff in jeder Ritze, an jeder Ecke, aber Bahrani federt eindimensionale Zuschreibungen ab, indem er Garfield in einen Faust'schen Pakt einwilligen lässt. Der von ganz unten wird zum Handlanger von dem ganz oben, bis er sich selbst an der Stelle des Teufels wiederfindet und entscheiden muss: Will er Geld haben oder ein reines Gewissen?
Andere Vorschläge des US-Kinos konnten weniger überzeugen: Barry Levinsons Home-Movie-artige Adaption von Philip Roths „The Humbling“ ist ebenso ambitioniert gescheitert wie David Gordon Greens Kleinstadtpsychogramm „Manglehorn“. In beiden Filmen spielt Al Pacino groß auf, vielleicht sogar zu groß, wenn dann der Geruch seiner lautstarken Persona die Zwischentöne der Geschichten übertüncht.
Vergnüglich: Peter Bogdanovich
Ebenfalls wenig subtil, aber ziemlich vergnüglich ist der neue Film von Peter Bogdanovich, „She's Funny That Way“, eine betont altmodisch angelegte Screwball-Komödie. Auch wenn sie nicht an Tempo und Schmäh seines Klassikers „Is was, Doc?“ anschließen kann, ist sie eine handwerklich exzellent gefertigte und schillernd besetzte Gaudi. Owen Wilson spielt darin einen Theaterregisseur mit fatalem Hang zu Callgirls, denen er dann immer denselben, aus dem Lubitsch-Klassiker „Cluny Brown“ stammenden Witz erzählt: „In Hyde Park, some people like to feed nuts to the squirrels. But if it makes you happy to feed squirrels to the nuts, who am I to say nuts to the squirrels?” Dialogische Preziosen und sonstige Missverständnisse dominieren das turbulente Geschehen, und Jennifer Aniston liefert als egomanische Psychotherapeutin die beste Vorstellung ihrer Karriere ab.
In den 20 Filmen des Wettbewerbs gab es bisher eher weniger zu lachen, aber immerhin sind auch komplette Rohrkrepierer wie Fatih Akins grobschlächtiger, aufgeblasener Melo-Western „The Cut“ über den türkischen Genozid an Armeniern während des Ersten Weltkriegs eher die Ausnahme.
Überragendes Meisterwerk aus Japan
Eine andere Geschichte über die menschliche Unmenschlichkeit in Kriegszeiten ist bisher das alles andere überragende Meisterwerk des Festivals: Shin'ya Tsukamoto, japanischer Spezialist für formal experimentelles Extremkörperkino, stürzt einen in „Nobi (Fires on the Plain)“ in die grüne Hölle des Pazifikkriegs. Ein an TBC erkrankter Soldat irrt allein durch den vom Feind besetzten Dschungel: Um ihn herum nichts als Schall (von den Schüssen) und Rauch (von den Granaten), in seinem Kopf nichts außer den Willen zum Überleben, die Suche nach Nahrung. Als auch die letzte Yamswurzel verzehrt ist, wird das Unvorstellbare immer vorstellbarer: Wieso nicht von den verbrannten, verstümmelten, von Maden zerfressenen Kadavern zehren?
„Nobi“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Shōhei Ōoka, der darin seine eigenen Erfahrungen verarbeitet hat: Als er 1951 erschien, sorgte die Beschreibung von kannibalistischen Handlungen unter japanischen Soldaten für einen Skandal. Tsukamotos Film hat nichts Aufklärerisches oder Pädagogisches an sich: Es ist gewaltig sinnliches Kino, das einen niederknüppelt, ein Rausch aus Lichtern, Farben und Bewegungen, inszeniert mit der für den Regisseur typischen Punk-Haltung in unreinen Bildern und schnellen Schnitten. Nach knappen 90 Minuten kann man das existenzielle Elend schmecken und riechen. Auch das ist „The Smell of Us“. Es stinkt nach Verwesung, es duftet nach Menschenfleisch.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2014)