Honecker beruhigt den Kreml: "Keine Panik!"

GERMANY WALL ANNIVERSARY
GERMANY WALL ANNIVERSARYAPA/EPA/Maja Hitij
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Oktober 1989. Wie – und warum – Gorbatschow die DDR fallen ließ: Bisher geheim gehaltene Protokolle von den Kreml-Sitzungen zeigen eine unglaubliche ökonomische Ohnmacht der einstigen Supermacht. Jetzt sind sie in Buchform nachzulesen.

Moskau, im Oktober 1989. Im Kreml, dem Machtzentrum des (noch) kommunistischen europäischen „Ostblocks“, trudeln im Stundentakt bedrohliche Nachrichten aus den „Satellitenstaaten“ ein. Es ist das Volk, das auf die Straßen geht und Demokratie einfordert; und es ist die ökonomische Lage, die ohne Kredithilfe des Westens das System bald zum Kippen bringt. Das Politbüro der KPDSU und das Zentralkomitee tagen in Permanenz.

Aber was ging hinter den dicken Kreml-Mauern wirklich vor sich? Wie konnte ein politisches System, das auf Jahrhunderte ausgelegt schien, derart schnell implodieren? Ohne Blutvergießen, ohne Panzer, ohne Maschinengewehre, ohne Bürgerkrieg? Diese Frage hilft nun eine Forschungsarbeit zu beantworten, die am Freitag in Wien präsentiert wurde.

99 ausgewählte, zum großen Teil erstmals eingesehene Dokumente halten in deutscher Übersetzung fest, was sich 1989 im Kreml abspielte, mit welchen Informationen die Sowjetführer von ihren Botschaftern in Europa versorgt wurden. Viele davon waren irreführend, beruhigend, abwiegelnd, wie die Geschichte zeigen sollte.

KP-Chef Michail Gorbatschow, Erfinder von Glasnost (Offenheit) und Perestrojka (Umgestaltung), handelte letztlich nicht linientreu, wie man es von einem strammen Marxisten-Leninisten erwarten müsste, sondern wie ein westlicher Konzernchef: Die Bilanzen waren tiefrot, also sollten die verbündeten Staaten im russischen Vorfeld ihre eigenen Wege beschreiten und selbst einen Ausweg aus dem Schlamassel suchen.

Die Moskauer Dokumente zeigen einen desillusionierten KPDSU-Chef, der erstmals die bittere Wahrheit ausspricht, etwa: „Wir haben die Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus eingebüßt.“ Zu den verschuldeten „Bruderstaaten“ Ungarn und Polen fällt ihm nur ein: „Wir schielen Ungarn und Polen nach, wenn sie sich an den Westen wenden, aber wir können keinen Ersatz bieten.“ Man müsse den Dialog mit Westeuropa „ohne Beteiligung der USA“ in Gang bringen.

Leichter gesagt als getan. In der DDR klammert sich das greise KP-Regime an die Macht und merkt gar nicht, dass sich außerhalb ihres Wohnghettos in Wandlitz die Welt verändert hat: „Kein Grund zur Panik“, lässt Erich Honecker den Kreml wissen, „die DDR ist gegen die Perestrojka, weil sie schon längst in der DDR verwirklicht wird.“ Hart zeigt sich auch Vasil Bilák in Prag: „Wir haben nicht vor, nachzugeben!“ Bei Ungarn, das zum ersten Mal ein Mehrparteiensystem einführte, deutet der Kreml die Zeichen falsch. Und in Rumänien weigern sich Priester, die angeblichen Verdienste und Wohltaten Ceauşescus zu preisen. Sehr früh stellt sich Moskau gegen ihn.

Als im Sommer 1989 Ungarn den Stacheldraht an der Grenze zum Burgenland abreißt und tausende DDR-Urlauber nach Österreich strömen, reagiert der Kreml eher apathisch: „Auch wir öffnen uns zusehends. . ..“

Das Dokument Nr. 81 mag zum Verständnis dessen beitragen, dass der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 Ost und West gleichermaßen überrascht hat. Kurz gesagt: Die DDR brauchte sofort einen Westkredit über mehrere Milliarden Mark. Der Bonner Bundeskanzler, Helmut Kohl, stoppte nun plötzlich das bisherige Tauschgeschäft – D-Mark gegen menschliche Erleichterungen Ostberlins. Er stellte jetzt eine Gegenforderung: Demokratie.

Am 31. Oktober 1989 analysiert das Zentralkomitee der KPDSU die Lage in der „Deutschen Demokratischen Republik“ und ihrer Volkswirtschaft. Das bittere Resümee: Bonn „müsse“ der DDR sofort einen Kredit über sechs bis sieben Milliarden Dollar gewähren, um das System zu stabilisieren. Kohl denkt nicht daran. Neben der Unproduktivität der Industrie fällt die Überalterung immer mehr ins Gewicht. Die Jungen gingen in den Westen, die Rentner blieben.

„. . . 3. Die DDR erlebt einen Arbeitskräftemangel. [. . .] Auch das Heranziehen ausländischer Arbeiter löst das Problem nicht (zurzeit werden in der DDR 125.000 ausländische Arbeitskräfte eingesetzt – 53.000 aus Vietnam, 14.000 aus Mosambik, 10.000 aus Kuba und 31.500 aus der VR Polen). Im ersten Halbjahr 1989 fehlten in der Industrie zur Plan-Beschäftigtenzahl 28.000. Im selben Jahr waren 39.000 Schulungsplätze für fertigungstechnische Ausbildungen nicht belegt.

Die Massenabwanderung, hauptsächlich von qualifizierten Jugendlichen in den Westen, wird die Situation auf dem Arbeitsmarkt schon in nächster Zeit weiter belasten. . .“

Machthaber ist seit dem Sturz des krebskranken und starrsinnigen Erich Honecker am 17. Oktober Egon Krenz, der eine Reformpolitik der SED verspricht. Für den 4. November 1989 ist auf dem Alexanderplatz (Ost-Berlin) eine Demonstration angesagt, von der neuen Parteiführung genehmigt und im Fernsehen angekündigt worden. Es sind Theaterleute, Schriftsteller, Schauspieler, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit fordern. Es wird zur größten Demonstration in der Geschichte der DDR. Die Sorge der Sicherheitsorgane: „Hooligans“ könnten auf die Idee kommen, zum Brandenburger Tor zu ziehen und die Öffnung der Mauer verlangen (was dann nicht geschieht). Aber die Sorge ist nicht unbegründet, und auch die machtlosen Mächtigen in Moskau diskutieren den bevorstehenden Tag sehr genau.

Politbüro Sitzungsmitschrift Anatoli S. Tschernjajew, 3. November 1989

[Wladimir A.] Krjutschkow: „Morgen gehen 500.000 in Berlin und in anderen Städten auf die Straße!“

[Michail S.] Gorbatschow: „Du hoffst, dass Krenz sich halten wird? Aber ohne Hilfe der BRD werden wir sie [die DDR] sowieso nicht über Wasser halten können.“

[Eduard A.] Schewardnadze: „Die ,Mauer‘ sollten sie lieber selbst beseitigen.“

Krjutschkow: „Wenn man [sie] beseitigt, wird es für die Ostdeutschen schwer werden.“

Gorbatschow: „Der Westen will keine Vereinigung Deutschlands, aber er will das durch unsere Hände gestört haben, uns mit der BRD zusammenstoßen lassen, um eine mögliche ,Abmache‘ zwischen der UdSSR und Deutschland auszuschließen. Wir werden die Angelegenheit in einem ,Dreieck‘ behandeln, d. h. mit der BRD und DDR, und zwar mit offenen Karten.“

Wie die Aufzeichnungen Tschernjajews, des engsten Vertrauten Gorbatschows, zeigen, wäre die Öffnung der BerlinerMauer ein logischer Schritt, auch wenn er unter wirtschaftlichemDruck geschehen würde. Mit Honecker war der Kreml-Chef sowieso längst fertig, wie Tschernjajew dem „Spiegel“ später verriet: „Sie liebten sich nicht. Gorbatschow verhielt sich zu Honecker immer sehr ironisch, manchmal sogar herablassend und demütigend, er achtete ihn nicht und hielt ihn für einen ziemlich dummen Menschen. . .“

Dass der „antifaschistische Schutzwall“nur wenige Tage nach dieser Politbüro-Sitzung fallen sollte, ahnte Moskau nicht. Das kam in dieser Form dann doch völligüberraschend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2014)

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