Israel: Jerusalems „schleichende Intifada“

ISRAEL PALESTINIANS SETTLERS CONFLICTS
ISRAEL PALESTINIANS SETTLERS CONFLICTS(c) APA/EPA/ABIR SULTAN (ABIR SULTAN)
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Juden gegen Araber, Araber gegen Juden, Molotowcocktails und Steinwürfe: In der Hauptstadt flammen immer neue Unruhen auf, weil Orthodoxe in Palästinensergebiete ziehen.

Jerusalem. Der Umzug Dutzender israelischer Siedler in das dicht bevölkerte palästinensische Wohnviertel Silwan ist Öl in das Feuer der seit Wochen andauernden Unruhen in Jerusalem. Die zumeist jungen Anhänger des national-religiösen Lagers zogen am späten Montagabend in zwei Gebäude mit insgesamt neun Wohnungen ein. Noch in der Nacht auf Dienstag warfen palästinensische Anwohner prompt Brandbomben auf die unerwünschten neuen Nachbarn. Die Häuser waren mittels eines Strohmanns zuvor legal erstanden worden.

Schon vor drei Wochen waren mehrere Dutzend Israelis in sieben Häuser in Silwan mit insgesamt 25 Wohnungen eingezogen. Eine Zeitungsannonce, die ausgerechnet das linksliberale Blatt „Haaretz“ veröffentlichte, pries den Akt, der „uns alle größer dastehen lässt“. Als einer der Unterzeichnenden firmiert auch der Publizist und Holocaust-Überlebende Eli Wiesel.

Fast vier Monate sind seit dem Mord an dem 16-jährigen Palästinenser Mohammed Abu Khdeir vergangen, doch Jerusalem kommt seither nicht zur Ruhe. Der Bub war Opfer radikaler ultraorthodoxer Juden geworden, die Abu Khdeir aus Rache für den Tod dreier israelischer Talmudschüler zunächst entführten und dann lebend verbrannten. Die Entführung hatte die Gewalt in Gang gesetzt, die schließlich im Juli im jüngsten Gaza-Krieg mündete.

Mit „schleichende Intifada“ betitelte der israelische Channel10 diese Woche einen Bericht über die unablässige Gewalt in der Stadt. Fast jede Nacht kommt es zu Angriffen von Arabern gegen Juden und von Juden gegen Araber. „Es ist wie im Wilden Westen“, sagt eine jüdische Anwohnerin. Regelmäßig fliegen Steine und Molotowcocktails auf Autos der Siedler und auf die Straßenbahn, die vom Zentrum Westjerusalems durch das palästinensische Viertel Beit Chanina bis zur Siedlung Givat Seew fährt.

Bürgermeister für Drohneneinsatz

Die Polizei ist offenbar machtlos. Bürgermeister Nir Barkat fordert mehr Mittel für die Sicherheit. Man müsse Drohnen zur Überwachung einsetzen, um die Rädelsführer dingfest zu machen. „Ich erwarte, dass die Polizei mehr Möglichkeiten bekommt, damit sie den Krieg gewinnen kann.“

Die Gewalt kommt jedoch von beiden Seiten. In einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat macht der palästinensische UN-Botschafter, Rijad Mansour, „extremistische terroristische Siedler“ für den Tod des fünfjährigen Mädchens Inas Chalil verantwortlich, das Anfang der Woche bei einem Autounfall mit Fahrerflucht starb. Ein weiteres Mädchen befinde sich noch in einem kritischen Zustand. Mansour schreibt von einer „tödlichen Praxis jüdischer Siedler gegen palästinensische Zivilisten“.

Seit August habe es vier solcher Unfälle in Jerusalem und im Westjordanland gegeben. Auch Channel10 berichtete über Angriffe auf Palästinenser. In einem Fall hätten hunderte Ultraorthodoxe zwei palästinensische Bauarbeiter mit Parolen à la „Tod den Arabern“ durch die Stadt gehetzt. In dem Krieg, von dem Barkat spricht, würden es die Siedler in Kauf nehmen, dass sie in ihrer neuen Umgebung nicht gefahrlos auf die Straße gehen können und die Fensterscheiben ihrer Autos kugelsicher sein müssen.

Kauf über Strohmänner

Hinter dem Kauf der Häuser in Silwan steht vermutlich eine der beiden radikalen national-religiösen Organisationen Ateret Cohanim und Elad, die beide eine Judaisierung Ostjerusalems vorantreiben, indem sie über Strohleute palästinensische Grundstücke und Häuser kaufen. Wichtigster Geldgeber ist der US-Geschäftsmann Irving Moskowitz.

Offenbar hat ein Palästinenser, der in Ostjerusalem lebt, im vorigen Jahr mehrere Gebäude angekauft und vermutlich mit hohem Profit an eine Siedlerorganisation weiterverkauft. Der Mann sei bereits vom palästinensischen Sicherheitsdienst verhört worden, streite vorläufig jedoch ab, die Gebäude an Siedler verkauft zu haben, heißt es. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas will nach einem „Haaretz“-Bericht mit einer Gesetzesreform sicherstellen, dass Palästinenser, die des Verkaufs von Grundstücken an Feinde oder feindliche Staaten schuldig befunden werden, „mit lebenslangen Haftstrafen und Zwangsarbeit“ bestraft werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2014)

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