Muliar-Chronik: Seine Angst vor dem Krieg als Zündstoff

Markus Muliar mit einem Bild seines 2009 verstorbenen Großvaters Fritz.
Markus Muliar mit einem Bild seines 2009 verstorbenen Großvaters Fritz.Die Presse
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Markus Muliar hat ein kritisches Buch über seinen Großvater geschrieben. Es ist die Chronik einer sehr speziellen Familie – und gleichzeitig ein Plädoyer für mehr Erzählkultur.

Ob er eh der Enkel sei? Oder besser noch: das Enkerl? Mit dieser Frage ist Markus Muliar aufgewachsen. Und mit diesem Selbstverständnis. Man ist das Enkerl, aber auch jemand. Weil man Muliar heißt. Wie der Großvater, der Fritz.

Es ist etwa eineinhalb Jahre her, da war Markus Muliar mit seinen Verwandten im Theater, um in „Abba“ seinen Onkel Martin zu sehen, der auch Schauspieler geworden ist. Für die Pause, erzählt Markus Muliar, hatte seine Mutter Sekt und Brötchen bestellt. „Im typischen Muliar-Ton: auf den Namen Muliar. Das war eine Selbstverständlichkeit, nach wie vor. Und dann kommen wir zu dem Tisch, und auf dem Kärtchen steht: Reserviert für Julia.“ Der 38-Jährige muss lachen, wenn er sich daran erinnert. „Da hab' ich mir gedacht: Jetzt ist es vorbei. Das war der Knackpunkt.“

Bis dahin sei es oberstes Gesetz gewesen, den Namen Muliar, den Namen des Burgstars, des Publikumslieblings hochzuhalten. Mit „Julia“ war der Bann gebrochen. „Nun war es mir erlaubt zu erzählen, zu schreiben, zu berichten“, schreibt Markus Muliar in seinem Buch „Damit wir uns verstehen“, das morgen, Montag, erscheint. Es ist, natürlich, ein intimer Einblick in das Leben des berühmten Volksschauspielers geworden. Doch das sei nicht Ziel gewesen, nur das Mittel zum Zweck: „Dass es der Fritz Muliar war, hat es mir ermöglicht, das Buch zu veröffentlichen“, sagt sein Enkel. „Das ist ganz klar. Aber nein, mir ging es um etwas anderes.“

Begonnen hatte es damit, dass Markus Muliar vor ein paar Jahren eine große Kiste in die Hände gefallen war: eine Sammlung von Briefen, Urkunden, Fotos und Tagebuchaufzeichnungen seines Großvaters. Der hatte sie dem damals 15-jährigen Enkel in die Hand gedrückt, zwei Jahrzehnte blieben sie vergessen. Nach der Wiederentdeckung begann Markus Muliar die Tagebücher zu transkribieren. „Ich habe plötzlich einen Menschen kennengelernt, der mir zeit seines Lebens nicht so gegenübergestanden ist.“

Fordernd und präsent

Der Großvater, wie er ihn kannte, war über 60, am Zenit seines Erfolgs. Ein fordernder Mann, „immer extrem präsent, sehr neugierig, er hat ständig alle beobachtet. Dem ist man nicht ausgekommen. Man musste immer aufpassen, was man bei ihm tut“, erinnert sich Muliar. „Außerdem hat er sich alles gemerkt. Ihm gegenüber war ich immer extrem konzentriert. Da musste alles passen, auch in sein Bild passen. Er war schwarz-weiß, und es war schon ganz gut, wenn man seiner Meinung war.“

Eine Meinung hatte der Großvater immer. „Er war ja einer der wenigen, der seine Stimme genützt hat. Er war ein Unangenehmer, hat seinen Senf zur Tagespolitik sehr wohl kundgetan und ist zu seiner Meinung gestanden.“ Das sei etwas, sagt Muliar, das ihm heute oft fehlt. „Ich distanziere mich davon“ – dieser Satz kann ihn auf die Palme bringen. „Weil es keine Meinung ist.“ Ob pädophile Pfarrer oder IS: „Nur zu sagen, ich hab' damit nichts zu tun, das erinnert mich ein bisschen an 1936.“

Der Zweite Weltkrieg war freilich nichts, über das der Großvater je gesprochen hätte. „Und das war wahrscheinlich auch der Grund“, glaubt Muliar, „warum ich vieles nicht verstanden hab'. Ich war ein durchwegs gut erzogener Schnösel in einer wahnsinnig guten Umgebung. Es war Frieden, wir haben den Krieg nie kennengelernt.“ Sein Großvater, der nach aufmüpfigen Bemerkungen als 22-Jähriger zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war, sei indes die Sorge nie losgeworden. „Ich glaube, dass er kontinuierlich Angst gehabt hat, dass das wieder kommt. Und dass wir natürlich nie damit gerechnet hätten, das hat wahrscheinlich Zündstoff ergeben zwischen uns. Das war eben etwas, wo wir uns nicht verstanden haben.“ Dazu, glaubt er, habe von Seiten des Großvaters auch eine gewisse Eifersucht eine Rolle gespielt, „die man natürlich als Jugendlicher von seinen Großeltern oder Eltern nicht erwartet. Aber diese Unbeschwertheit, die wir gelebt haben – ich glaub', das hat ihn extrem gewurmt. Weil er das nicht gehabt hat. Die haben ihm seine Jugend genommen.“

Freilich, der Krieg war nicht das Einzige, worüber in der Familie nicht gesprochen wurde. Es sei von ihm erwartet worden, Dinge zu können und zu wissen, die ihm niemand beigebracht habe, schreibt Muliar im Buch. Dinge wie die eigene Familiengeschichte, in die er hineingeworfen worden war. In ein Geflecht aus Beziehungen, gescheiterten Ehen und abwesenden Müttern, in einen Kosmos, der sich um den Großvater als Patriarchen drehte. Und, in zweiter Linie, um seinen Vater, den Juwelier, der mit seiner als Werkstatt, Geschäft und Treffpunkt dienenden Privatwohnung in der Tuchlauben die gesellschaftliche Bühne stellte. Er habe lange überlegt, sagt Muliar, die eigene Kindheit so öffentlich zu machen. „Aber ich wollte die Geschichte vom Großvater so erzählen, dass sie verständlich ist. Deswegen habe ich beschlossen, das in meine Biografie zu packen.“

So erfährt man auch, wie es war, in den Achtzigern die Wiener Innenstadt zu bewohnen. In der Wohnung gingen die Freimaurer-Freunde seines Vaters ein und aus. Samstags, berichtet Muliar, habe ihn der Vater zum Einkauf beim Meinl am Graben mitgenommen und danach ins legendäre Gutruf beim Petersplatz, wo er auf Figuren wie „Magic Christian“, Udo Proksch, die „Rote Fini“ oder Eden-Bar- und Hotel-Orient-Besitzer Heinz Schimanko traf. Allem Unbehagen, das Muliar als Kind bei diesen Besuchen empfand, zum Trotz, wurde Schimanko zum väterlichen Freund – und das Gutruf zum Sinnbild für einen Ort, an dem man sich austauscht.

Einen solchen führt er heute seit einem Jahrzehnt auch selbst: das Café Markusplatz in der Tuchlauben, genau unter dem einstigen Familien-Refugium. Man weiß, wo man ihn findet, und wer immer das Bedürfnis hat, über den alten Fritz Muliar zu plaudern, nutzt das auch. Markus Muliar ist es recht. „Immer wieder hieß es, dass ich kein gutes Verhältnis zu ihm hatte. Das stimmt nicht. Wir hatten unser eigenes Verhältnis. Dieses Verhältnis war ganz sicher nicht einfach, aber noch lange kein schlechtes.“ Er habe schöne Erinnerungen an den Großvater, „wo er auch sehr menschlich war“.

Erfahrung teilen

Vieles habe er aber erst im Nachhinein verstanden, und: „Ich bin überzeugt, dass es mir nicht allein so geht. Ich glaube, dass jeder so eine Kiste zu Hause hat, auch wenn er sie vielleicht nicht materiell hat. Und ich wollte diese Erfahrung nicht für mich behalten. Ich hab' mir gedacht, dieses Aha-Erlebnis kann jeder haben, wenn er sich traut, sich mit seiner Geschichte zu beschäftigen.“

Wünschenswert, glaubt er, wäre das auch aus gesellschaftlicher Sicht. „Wir leben heute nicht mehr in der Zeit, wo wir die Täter finden müssen. Aber es wäre für unsere Zeit gut, wenn wir die Täter verstehen. Nicht Verständnis haben – aber verstehen, damit wir sie in unseren Reihen erkennen.“ Er habe einen guten Bekannten, erzählt Muliar, der wisse, dass sein Großvater in der SS war, am Morzinplatz – und der partout nichts mit ihm zu tun haben wolle. „Bei ihm ist mir quasi der Ansatz gelungen, sich mit seinem Großvater zu beschäftigen.“ Das, sagt Muliar, sei sein eigentliches Ziel. „Die Fronten lockern, diese Angst nehmen, Vergangenes in seine eigene Realität reinzulassen. Das würd' mir halt taugen, wenn das funktioniert.“

Zum Buch

Markus Muliar
wurde 1976 geboren. Nach seiner Ausbildung zum Tourismuskaufmann arbeitete er u.a. als Model. 2006 übernahm er das heutige Café Markusplatz in der Wiener Innenstadt. 2013 brachte er eine Sammlung von Gedichten seines Großvaters als Hörbuch heraus.

Das Buch:
„Damit wir uns verstehen!“,
Kremayr & Scheriau, 256 Seiten, 22 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2015)

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