Kirchweger-Tod: Ein Fausthieb für die Gesellschaft

Die Bundesregierung marschierrt in Gedenken für den bei Demonstration bei der Oper ums Leben gekommen Pensionisten Ernst Kirchweger über den Heldenplatz.
Die Bundesregierung marschierrt in Gedenken für den bei Demonstration bei der Oper ums Leben gekommen Pensionisten Ernst Kirchweger über den Heldenplatz. Kern, Fritz / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk
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Vor fünfzig Jahren starb der Pensionist Ernst Kirchweger bei einer Schlägerei zwischen Antifaschisten und rechten Studenten. Es geschah mitten in Wien.

Am Nachmittag des 31. März 1965, es war Mittwoch, glich in Wien die Kärntner Straße einem Heerlager. Linke Gruppen, empörte Widerstandskämpfer aus beiden Lagern, hatten zu einer Demonstration gegen Taras Borodajkewicz aufgerufen. Etwa zweitausend werden es gewesen sein. Dem Professor an der Hochschule für Welthandel wurren antisemitische Äußerungen während seiner Geschichtsvorlesungen vorgeworfen, doch der VP-Unterrichtsminister reagierte nicht („siehe „Die Welt bis gestern“ vom 21. März).

Aber es gab auch Gegendemonstranten. Bei der Opernkreuzung sangen die rund zweihundert Borodajkewycz-Sympathisanten, durchwegs Studenten, „Gaudeamus igitur“. Was die Widerstandskämpfer mit einem Hagel von Wurfgeschossen beantworteten. „In den vordersten Reihen der Demonstranten wurden Holzlatten geschwungen, mehrere rot-weiß-rote Fahnen wurden eingerollt und als Lanzen verwendet“, berichtete Bruno Seiser in der „Kronen-Zeitung“.

Mit (zunächst) nur einem einzigen Funkstreifenwagen und einem dürftigen Trüppchen versuchte die Polizei hilflos, Ordnung zu schaffen. Die Schlägerei verlagerte sich hinüber zur Philharmonikergasse, wo ein wütender Demonstrant die linke Ordnerkette durchbrach. Ferdinand Lacina war dabei. Er konnte den Pensionisten Ernst Kirchweger aus Favoriten noch am Mantel erwischen, doch der riss sich los und stürmte Richtung Albertina, wohin sich die Rechten zurückgezogen hatten. Vor dem Hotel Sacher versetzte ihm dann ein junger Mann einen Faustschlag. Kirchweger stürzte mit dem Hinterkopf aufs Pflaster und lag besinnungslos in einer Blutlache. Zwei Tage später erlag der Pensionist, der ein eifriger KP-Aktivist war, im Spital seinen Verletzungen. Er war 67 Jahre alt. Nach dem Täter wurde anhand von Pressefotos gefahndet.

Österreich stand unter Schock. War das die unselige Wiederkehr der Dreißigerjahre? Schon einmal hatten ideologische Kämpfe auf der Straße der Demokratie den Garaus gemacht. Der ÖGB rief die Werktätigen zu einer Minute des Gedenkens „an das erste Opfer reaktionärer Elemente“ auf, die ÖH hingegen wetterte gegen den „Terror der Straße“, die FPÖ sprach von Zwischenfällen, die man nicht derart aufbauschen möge, die Volkspartei ging auf Tauchstation.

Der Täter war schon vorbestraft

Drei Tage später hatte man den Täter. Und dieser 24-jährige Chemiestudent Günther K. war polizeibekannt: Als Aktivist des „Bundes heimattreuer Jugend“ (BHJ) war er schon 1957 wegen Hakenkreuzschmierereien angezeigt worden. Der BHJ wurde zwar verboten, aber Günther K. warf am 1. Mai 1958 Stinkbomben beim Maiaufmarsch der SPÖ und 1961 – auf dem Höhepunkt der Südtirolkrise – eine Brandbombe gegen die italienische Botschaft. Zehn Monate Arrest fasste er damals aus. In der Freizeit boxte er an der UTA.

Am 9. April 1965 wurde Kirchweger mit einem Quasi-Staatsakt geehrt. Etwa 25.000 Menschen, voran Mitglieder der schwarz-roten Koalitionsregierung (die nicht mehr lang bestehen sollte), begleiteten den Trauerkondukt über den Heldenplatz und den Ring bis zum Schwarzenbergplatz. Im Krematorium fand der letzte Akt statt.

Schöne Reden, die Beschwörung der legendären Lagerstraße im KZ: Die Regierungspartei ÖVP sah sich im Dilemma. Sie wollte die Freiheit der Lehre an den Hohen Schulen verteidigen, ihr Handelsminister Fritz Bock aber kam aus dem katholischen Widerstand und ging beim Kirchweger-Begräbnis in der ersten Reihe mit, während Bundeskanzler Klaus fehlte. So hagelten die Vorwürfe auf den Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević hernieder. Er hatte sich gegen ein Eingreifen in die Causa gewehrt – jegliche Disziplinierung von Borodajkewycz obliege der Hochschule. Ohne Ermittlung zu handeln bedeute „undemokratische Willkür, wie wir sie in den Tagen der NS-Herrschaft zur Genüge kennen gelernt haben“, verteidigte er sich im Nationalrat. Und er bekam Sukkurs vom VP-Generalsekretär Hermann Withalm: „Wer an österreichischen Hochschulen lehren darf und wer nicht, wird jedenfalls weder die Straße noch das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Österreichs bestimmen!“ (ÖVP-Pressedienst).

Zwist im Cartellverband

So spaltete die Causa auch den Cartellverband. Die Aktiven standen mehrheitlich gegen die Kommunisten, die Senioren hingegen verurteilten „jegliche Art von nationalsozialistischer Betätigung, Glorifizierung, Gutheißung oder Verharmlosung des nationalsozialistischen Regimes an den österreichischen Hochschulen.“ Und die ÖVP-Widerstandskämpfer sowieso. Unglücklicherweise war die politische Stimmung zusätzlich angeheizt: Man stand mitten im Wahlkampf für das Amt des Bundespräsidenten. Wiens SP-Bürgermeister Franz Jonas gegen VP-Exkanzler Alfons Gorbach – da kam es für die ÖVP auf jede rechte Stimme an! Das Ergebnis spiegelt dies ganz gut wieder: Mit 49,3 Prozent oder 2.260.888 Stimmen hatte Gorbach den Sieg gegen Jonas nur haarscharf verpasst: 50,7 Prozent (2.324.436 Stimmen).

Und die FPÖ? Die verhielt sich erstaunlich zurückhaltend, wenngleich der Ring Freiheitlicher Studenten ihre Vorfeldorganisation war. Dem Parteiobmann Friedrich Peter war dieses Beschwören der Vergangenheit unangenehm, er wollte mit der SPÖ endlich ins Geschäft kommen, um die Regierungsfähigkeit zu erlangen.

Heinz Fischer, der 1963 wegen Verleumdung von Borodajkewycz zu 4000 Schilling Geldstrafe verurteilt worden war, erlangte im Juni in zweiter Instanz einen Freispruch. Gleichzeitig ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen den Hochschullehrer. Sie beurteilte die Vorlesungsmitschriften als „hart an der Grenze des Tatbestandes nach § 3g des Verbotsgesetzes nationalsozialistischer Wiederbetätigung“. Aber sie überließ den Fall den zuständigen Universitätsbehörden.

So forderte Borodajkewycz von sich aus ein Disziplinarverfahren. Erst im Mai 1966 erging das Urteil: zwangsweise Pensionierung. Um den Professor wurde es still, obwohl er noch zahlreiche Bücher und Artikel verfasste. 1984 starb er im 82. Lebensjahr in Wien. Davor schon, im Oktober 1965, wurde Günther K. der Prozess gemacht. Der Totschlag wurde als Notwehrüberschreitung beurteilt. Dafür bekam K. nun neuerlich eine zehnmonatige Haftstrafe.

Die Gespenster von einst waren ganz unvermutet wieder erwacht. Und sie schreckten Österreich auf. Das alles spielte sich wohlgemerkt ausgerechnet zur Jubelfeier der Wiener Universität ab. Man feierte den 600. Geburtstag. Vor fünfzig Jahren.

(''Die Presse'', Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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