75 Jahre Nylonstrumpf

File photo of tights displayed in a shop in the Andalusian capital of Seville
File photo of tights displayed in a shop in the Andalusian capital of SevilleREUTERS
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Am 15. Mai 1940 gingen in den USA erstmals synthetisch hergestellte Strümpfe über den Ladentisch. In den Städten brach das Chaos aus.

An spektakulären Erfindungen hat es bei der Weltausstellung in New York wahrlich nicht gefehlt. Da waren Fotografien in Farbe zu sehen, eine monströse Maschine, die sich Klimaanlage nannte, überdimensionale Roboter, die sprechen und singen konnten, sowie eine Erfindung namens Fernseher, die später die Wohnzimmer der Welt revolutionieren sollte. Und an einer Ecke der Ausstellung standen zwei elegant gekleidete Damen und zogen am jeweiligen Ende einen Nylonstrumpf auseinander. Die Frauen zankten nicht, vielmehr sollten sie den Zuschauern demonstrieren, was der Hersteller Dupont über sein Produkt versprach: stabil wie Stahl und fein wie ein Spinnennetz.

Mit der Weltausstellung im Frühling 1939 wurde eine verheißungsvolle Zukunft vorgestellt, das Schauhaus der modernen Konsumgesellschaft, die schillernde Ära nach der Großen Depression (die mit Kriegsbeginn freilich einen Rückschlag erhielt). Die Weltausstellung war also auch die öffentliche Geburtsstunde des Nylonstrumpfes, die die Modewelt auf den Kopf stellen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Seidenstrümpfe den Markt beherrscht, wobei beherrscht schon zu viel gesagt ist: Sie waren enorm teuer, empfindlich und vielmehr in bourgeoisen Kreisen zu finden. Die Mehrheit der Frauen trug kratzige (Baum-)Wolle.

Dem Trend der Synthetisierung von Textil folgend – insbesondere aus Erdöl, Kohle und Wasser –, begann der Chemieriese Dupont in den 1930er-Jahren, viel Geld in die Herstellung von künstlichem Fadenmaterial zu investieren. Die Gruppe der Wissenschaftler wurde von Wallace H. Carothers geleitet, einem scheuen und melancholischen Mann, der zuvor Chemie in Harvard unterrichtet hatte. Carothers hat in viele Richtungen experimentiert, aus seinen Versuchen mit Polyamiden entstand schließlich Nylon. „Now, you lousy old nipponese!“, soll Carothers der Legende nach ausgerufen haben – eine Spitze an die Japaner und ihre Seidenproduktion. Die Anfangsbuchstaben jenes Satzes ergeben schließlich Nylon, doch der Hersteller ließ diese Geschichte als Mär dementieren. Nylon leite sich von „no run“ ab. Soll heißen: keine Laufmasche. Tatsächlich war die Erfindung des Chemikers robuster als die äußerst sensible Seide, sie war elastisch, reiß- und scheuerfest, und sie blieb selbst bei wildem Regenfall unversehrt.

Offizieller Verkauf

Nun sollte es trotzdem über ein Jahr dauern, bis der Nylonstrumpf nach der Weltausstellung über die Ladentische ging. Bis dahin waren es vornehmlich die Frauen der Dupont-Mitarbeiter, die die synthetischen Produkte tragen (und testen) durften. Als der offizielle Verkauf avisiert wurde – der 15. Mai 1940 sollte es sein –, brach ein unvergleichlicher Hype aus. „Erwarten Sie etwas ziemlich Großartiges“, titelten die Zeitungen, und dem Verkaufstag selbst sollte später ein eigener Name verpasst werden: Nylon-Day – oder N-Day. Alle wollten sie haben, die Strümpfe um 1,15 Dollar pro Paar. Frauen stürmten die Läden, von langen Schlangen wurde berichtet, Rangeleien und Prügeleien, in vielen Städten musste die Polizei einschreiten. Allein in New York sollen bis zur Mittagszeit 780.000 Paar verkauft worden sein, überhaupt war das Produkt binnen weniger Stunden ausverkauft.

Betrug der Verkaufserlös für Dupont im Jahr 1940 noch neun Millionen Dollar, waren es im Jahr darauf bereits 25 Millionen. Vermutlich hätten es mehr sein können, aber Dupont musste im selben Jahr auf Kriegsproduktion umsatteln. Aus den synthetischen Fäden wurden nun Fallschirme sowie Kriegsbekleidung und -material hergestellt. Auf dem Schwarzmarkt hingegen sollen beträchtliche Summen für Nylonstrümpfe bezahlt worden sein, eine Entwicklung, die auch in Deutschland beobachtet wurde; amerikanische Soldaten bekamen alles Mögliche für ein Paar, und für die Frauen war es mehr als ein Modeprodukt – es war eine Erinnerung an bessere Zeiten. Denn auch der deutsche Hersteller von Nylon – hier unter Perlon patentiert – musste vorrangig für den Krieg produzieren.

In den späteren Kriegsjahren, als synthetische Strümpfe also kaum hergestellt wurden, half man sich anderweitig. Der Kosmetikunternehmer Max Factor etwa verkaufte Farbe, die von den Frauen auf die Beine gemalt wurde, um den Glanz-Effekt des Nylons nachzuahmen. Die hintere Naht wurde mit einem Kajalstift gezogen; die Strümpfe wurden damals noch nicht mit einer runden Strickmaschine hergestellt und bekamen dadurch die charakteristische Linie.

Die lange Kriegspause hat den Nylon-Hype jedenfalls nicht beendet, im Gegenteil: Mit Ende des Krieges wiederholte sich der N-Day. Allein in der Stadt Pittsburgh warteten 40.000 Menschen vor einem Kleidergeschäft, die Schlange betrug fast zwei Kilometer. In den folgenden Wirtschaftswunderjahren war schließlich nichts mehr vor Nylon sicher: Jacken, Socken, Unterwäsche, Röcke ... Dupont war auch schlau genug, sein Produkt in Paris zu platzieren. Die Models von Coco Chanel und Christian Dior, nur um zwei Namen zu nennen, trugen Nylon, und die Bilder der Schauen gingen freilich um die Welt. Erst in den 1960er-Jahren löste die Nylonstrumpfhose die Nylonstrümpfe, die bisher als Strapse verkauft worden waren, ab. Die Strumpfhose passte besser zum Minirock, dem neuen Trend aus England.

Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis das Plastikgewand den ökologisch bewussten Konsumenten zum Feind bekommen sollte. Kein Wunder. Mit 50 Liter Benzin fährt man entweder 500 Kilometer – oder man stellt 1000 Nylonstrümpfe her.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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