Jean Paul Gaultier: „Die Mode schafft sich selbst ab“

Jean Paul Gaultier im Interview: „Der eine macht dies, der andere das – und viele machen dasselbe.“
Jean Paul Gaultier im Interview: „Der eine macht dies, der andere das – und viele machen dasselbe.“(c) Christine Ebenthal
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Jean Paul Gaultier als Swarovski-Auslagengestalter und Protagonist einer wandernden Retrospektive: Anlass für ein Gespräch über Kipferln, den Bart von Frau Wurst und gezeichnete Sommersprossen.

Ein Interviewtermin mit einem berühmten Menschen kann verschiedene Anmutungen annehmen: Schlimmstenfalls sitzen gleich mehrere Journalisten um einen Tisch, bombardieren ihr ermattendes Gegenüber mit bunt durchmischten Fragen und kommen sich dabei munter gegenseitig in die Quere. Oder man trifft sich „one on one“, hat aber ungefähr 300 Sekunden zur Verfügung und bleibt vor lauter Sekundenticken-im-Hinterkopf fast schreckensstumm. Insofern stimmt es schon, wenn die PR-Dame von Jean Paul Gaultier einen Mittagessen-Termin im Hotel Sacher als „You really got the jackpot“ einleitet. Da nämlich Monsieur Gaultier ausgesprochen gern isst und sich sowohl für den einleitenden Tafelspitz mit Cremespinat als auch für die Powidl- und Marillenpalatschinken ausreichend Zeit nimmt, besteht ausnahmsweise keine Notwendigkeit, ein Fragenstaccato im Zeitraffertempo herunterzuspulen. Was für eine Erleichterung, wenn man bei der Gelegenheit ein Gespräch mit dem freundlichsten Modedesigner der Welt führen darf.

Sie sind oft nach Wien gekommen in letzter Zeit, nicht wahr?
In der Tat. Für einen Dreh mit Conchita, die Vorbereitungen zum diesjährigen Life Ball und natürlich das Projekt mit Swarovski. Also in den vergangenen zwei Jahren war ich bestimmt zehnmal hier. Aber ich kenne Wien schon viel länger, 1995 war ich zum ersten Mal Life-Ball-Designer, das ist eine schöne Erinnerung für mich.

Sie lieben Süßes: Haben Sie die Wiener Mehlspeisen gekostet?
Aber natürlich, immer wieder. Die berühmte Sachertorte natürlich und allerlei anderes süßes Gebäck. Wir sprechen nicht umsonst von „viennoiseries“, also für uns kommt viel süßes Gebäck aus Wien. Auch das Croissant haben wir von den Wienern übernommen.

Uns haben das Kipferl wieder die Türken hinterlassen.
Aber natürlich, das „croissant de lune“, darum der Halbmond, ich verstehe. Diese gegenseitige Beeinflussung verschiedener Kulturen ist doch immer wieder interessant; auch in der Bekleidung natürlich. Man merkt das besonders gut bei den Motiven in Landestrachten. Da findet man quer um die Welt Ähnlichkeiten, manche Muster gibt es in Südamerika ebenso wie in Indien. Manchmal spiegeln sich da Migrationsbewegungen, manchmal ist es vielleicht einfach die Art, wie der Mensch seine Umwelt interpretiert.

Trachten und Nationalkostüme sind generell ein wichtiger Einfluss für Ihre Arbeit?
Absolut. Nehmen Sie nur das Beispiel meiner jüngsten Haute-Couture-Kollektion, bei der ich mich auf bretonische Trachten beziehe, die wiederum mit irischer Folklore in Wechselbeziehung stehen.

Solche gegenseitigen Einflüsse in der Tracht spiegeln lange Prozesse. Die Mode heute ist hingegen rasend schnell. Sie machen dieses Tempo nicht mehr mit, haben die Mehrheit Ihres Hauses an den spanischen Puig-Konzern verkauft und machen nur mehr Haute Couture. Haben Sie sich nach diesem Schritt erleichtert gefühlt?
Erleichtert? Ja, in gewisser Weise tatsächlich. Zum einen, weil mich das aus der Verantwortung entlassen hat, auch als Geschäftsmann denken zu müssen – das liegt mir gar nicht. Und bedenken Sie bitte, ich mache seit über dreißig Jahren meine eigene Kollektion; in der Mode arbeite ich, seit ich 18 bin. Ich habe also Kollektionen über Kollektionen gemacht, für Frauen, für Männer, Haute Couture, Pre-Collections, eine Zeit lang auch Hermès. Und vieles davon immer noch so wie am Anfang, als ich alles selbst gemacht habe – weil ich nicht delegieren kann. Außerdem ist wegen der schwierigen Wirtschaftslage heute nicht mehr die Arbeit an Kollektionen gefragt, sondern eher die Entwicklung von kommerziell erfolgreichen Produkten. Und schließlich funktioniert die Mode heute so, dass sie sich selbst abschafft. Diejenigen, die das Geld hätten, sich Luxusmode zu kaufen, möchten ihre Kleider geschenkt bekommen. Das ist doch absurd.

Sie spielen auf Starkult an und darauf, dass viele Berühmtheiten sich von Luxusmarken von Kopf bis Fuß ausstatten lassen?
Natürlich. Ganz Hollywood, alle, die dort über den Red Carpet gehen, haben geschenkte Kleider an. Das ist doch widersinnig. Denken Sie nur an Marlene Dietrich: Wenn sie etwas Schönes für die Oscars brauchte, ging sie zu Dior und kaufte sich ein Kleid.

Wie hat sich die Mode in den vergangenen 30 Jahren verändert?
Als ich angefangen habe, in etwa zeitgleich mit Mugler und Montana, haben wir das Prêt-à-porter erneuert, sodass es zu einer Alternative zur dahindümpelnden Couture wurde. Man sprach von der Konfektionsmode als Nouvelle Couture. Nach der Hippie-Bewegung hatte man in den Siebzigerjahren ein wenig das Interesse an Mode verloren, in den Achtzigern veränderte sich das. Wir, die jungen Designer, man nannte uns „les créateurs“, haben mehr gewagt, und damit die eigentlich modische Mode gemacht, „la mode à la mode“. Und unsere Shows waren die modischen Defilees.

Außerdem inszenierten Sie regelrechte Spektakel.
Ja, da bin ich allerdings der Letzte, der daran etwas auszusetzen fände, weil mich das Spektakel immer gereizt hat. Aber es stimmt schon, dass wir sehr viel gewagt haben. Ich erinnere mich noch daran, wie mich zum ersten Mal ein Fremder auf der Straße ansprach und sagte, er habe mein Defilee in der Fernsehsendung „Paris mode“ gesehen. Das war toll, weil das eben jemand war, der sich nicht für Mode im engeren Sinn interessierte, sondern für das Spektakel, Mode und Mannequins auf dem Laufsteg. Da hat es auch angefangen, dass man mit einer Modeschau nicht mehr in erster Linie Kleider verkaufen will, sondern etwas ganz anderes.

Sie hat freilich das Entwerfen von Mode, von Bekleidung, immer mehr gereizt als zum Beispiel Accessoires oder Ähnliches?
Selbstverständlich. Und warum? Der Name beantwortet es schon: Das Accessoire ist der Zusatz, das über die Hauptsache Hinausgehende. Natürlich sind Accessoires wichtig, aber sie komplettieren das Gesamtbild, ergänzen das eigentlich Wesentliche, nämlich die Silhouette.

Sind Sie ein guter Zeichner?
Ich zeichne ganz gut, aber ich bin kein begnadeter Modezeichner wie etwa Christian Lacroix. Die Zeichnungen, die ich als 17-Jähriger an Pierre Cardin geschickt habe, gefielen ihm, weil sie anders waren, und ein wenig vulgär. Ich hatte große Sommersprossen auf die Gesichter gemalt, mit Orange, das war recht auffällig.

Sie haben sehr jung angefangen und den Beruf in medias res erlernt.
So ist es. Anfangs konnte ich noch kaum etwas, war einfacher Gymnasiast. Ich habe beobachtet und dabei gelernt. Zugleich war mir immer klar, dass ich ein Defilee machen wollte. Wie in dem Film „Falbalas“ von Jacques Becker.

Was hat Sie an „Falbalas“ so fasziniert?
Alles. Die Hauptfigur war zum Beispiel Mannequin, und es wurde deutlich, wie wichtig die Auswahl der Vorführdamen ist. Bis ich „Falbalas“ sah, wollte ich eine Revue wie die Folies bergères ausstatten. Die Mädchen, die Federn, die staunenden Zuseher – das habe ich geliebt.

In „Falbalas“ nimmt der Protagonist, ein Couturier, ein tragisches Ende und ist auch nicht sympathisch.
Absolut. Ich kann nur hoffen, dss ich selbst nicht diesem negativen Bild eines Stardesigners entspreche. Auch wenn „Falbalas“ ein sehr gut gemachter und durchaus realistischer Film ist.

Denn diese Härte gibt es in der Modewelt?
Es gibt sie, aber wenn man etwas außerhalb dieser Welt sein eigentliches Leben führt, erfährt man sie nicht am eigenen Leib. Die Mode ist aber nicht grausamer oder härter als andere Branchen. Auch wenn sie zu sich selbst sehr hart ist, das ist vielleicht das Besondere. Ich habe in all der Zeit einfach meine Arbeit gemacht.

Dazu gehörte aber zumindest ein bisschen Nachtleben: Die sichtbaren BHs, die Sie in die Mode einführten, hatten Sie sich von Mädchen in Clubs wie dem „Palace“ abgeschaut, nicht?
Ja und nein. Ich hatte das Glück, auf ein bestimmtes Mädchen aufmerksam zu werden, Frédérique Lorca – sie arbeitet übrigens noch immer für mich. Und sie gehörte zu einer Pariser Punk-Clique, die mich ebenso beeinflusste wie die Punks in London. Sichtbare Korsagen und BHs, das geht ebenso auf meine Großmutter zurück, die noch selbst ein Korsett besaß und mir als kleinem Jungen erklärte, was das war und warum Frauen das angezogen hatten.

Feministinnen warfen Ihnen Ende der Achtzigerjahre vor, Frauen wieder in das Korsett schnüren zu wollen.
Das stimmt, dabei war das Gegenteil der Fall: Ich machte postfeministische Mode. Die Töchter der ersten Generation von Feministinnen hatten eben wieder Lust, ostentativ Büstenhalter anzuziehen, aber als bewusst gesetzte, selbstbewusste Geste und nicht in erster Linie, weil das Teil ihrer Selbstinszenierung für Männer war. Und Frédérique Lorca ging eben im Palace tanzen, mit einer ChanelWeste, unter der sie einen BH trug. Für mich war das ein Kurzschluss zur Unterwäsche und den Korsagen meiner geliebten Großmutter, also ein sehr persönliches, nostalgisches Erlebnis.

Was fasziniert Sie an Frauen wie Amanda Lear oder Catherine Deneuve, die man bei Ihren Defilees in der ersten Reihe sitzen oder manchmal auf dem Laufsteg sieht? Über die Deneuve haben Sie einmal gesagt, sie sei gar nicht die bürgerliche Dame, für die viele sie halten, sondern sie stehe auf der Seite der Provokation. Ist es das, worum es geht – Provokation?
Ach, wissen Sie, ich habe immer gefunden, dass es in der phallokratischen, machistischen Gesellschaft eine große Ungerechtigkeit gibt, die darin besteht zu sagen: Wenn eine Frau schön ist, muss sie eine Idiotin sein. Und diese Frauen beweisen dsa Gegenteil. Mein Lieblingsbeispiel aus der Mode: Die klassische Männerjacke hat Innentaschen für die Geldbörse und andere wichtige Habseligkeiten, die Damenjacke hat dies nicht – weil sich die Dame aushalten lässt und untergeordnet ist, weil sie nicht das Geld hat. Das ist doch unglaublich. Meine Mutter und meine Großmutter waren sehr starke Frauen, und auch wenn mein Vater ein wunderbarer Mann war, hatte nicht er das Sagen bei uns. Ein Grund mehr für mich, diese Ungerechtigkeit, die es auch in der Mode gibt, so weit als möglich abzuschaffen und so viele Zeichen wie möglich zu setzen.

Was heißt es heute, modisch zu sein? Gibt es das Konzept überhaupt noch?
Eigentlich nicht. Ich erinnere mich noch, als ich ein Jugendlicher war, gab es noch echte Modediktate. Es gab zum Beispiel einen Winter, da trugen plötzlich alle schicken Frauen braune Strumpfhosen. Und ich wollte absolut, dass meine Mutter sie auch tragen sollte. Heute ist das alles ganz anders. Es gibt ja Menschen, die freundlich zu mir sein wollen, und weil sie wissen, dass ich in der Mode arbeite, fragen sie: Also, Jean Paul, was sind denn gerade die wichtigsten Trends? Was soll ich sagen? Es gibt keine Trends mehr, der eine macht dies, der andere macht das, und viele machen exakt dasselbe.

Und viele bleiben ihrer Linie treu, um ihre Kunden zu halten.
Ganz genau. Natürlich, man kann sagen, sie bleiben der Ästhetik ihrer Marke treu. Man könnte auch sagen, sie wiederholen sich ad infinitum. Das ist ganz ähnlich wie in der Musikbranche. Wenn man einmal mit etwas Erfolg hatte und es auf einmal weniger gut läuft, dann kommt man auf das Erprobte zurück.

Sie haben selbst einmal ein Lied aufgenommen, „Aow Tou Dou Zat“. Eine schöne Erinnerung?
Ja, warum nicht, obwohl ich mir manchmal denke, es hätte lieber „Wai Ai Did Zat“ heißen sollen. Aber es war lustig, ich konnte ein Plattencover machen, Mondino hat es fotografiert, das Lied ist Teil meiner Geschichte.

Sie sind Fan und Freund von Conchita Wurst, die auch bei Ihrer Ausstellungseröffnung in München auftrat. Was fasziniert Sie an ihr so sehr?
Sie ist ganz außergewöhnlich, weil sie uns alle einen Schritt weiter gebracht hat, das ist wirklich erstaunlich. Sie hat es geschafft, etwas Neues zu konkretisieren, auch in der Schwulenbewegung. Dieses Barttragen der Hipster war ja zuerst unter Schwulen verbreitet, ehe es dann weitere Kreise zog. Conchita hat diesen Look auf eine andere Ebene gehoben, indem sie es mit ihrer ausgeprägten Weiblichkeit kombinierte. Dieser Kurzschluss, die bärtige Frau, die keine Frau ist, sondern ein Mann, das allein ist schon außergewöhnlich. Die Leistung, alle Codes zu verdrehen, ist ihr hoch anzurechnen. Abgesehen davon ist sie wirklich intelligent und sagt in allen Interviews nur kluge Dinge.

Sie sind einer der berühmtesten Designer der Welt: Spüren Sie es in Ihrem Alltag, dass Sie ein Star sind?
Ach, wissen Sie, wenn sie von „Star“ das S- weglassen, bleibt nur mehr „tare“ übrig, also der Schandfleck. Das bin schon eher ich. Aber im Ernst: Für mich war es von Jugend an eine Befreiung, das tun zu können, was ich heute noch tue. In der Schule war ich nicht besonders beliebt, wurde oft gehänselt. Als ich begann, die Folies bergères zu skizzieren, hat sich das geändert, alle wollten auf einmal eine Zeichnung von mir geschenkt bekommen. Das war ein Aha-Erlebnis für mich: Ich kann ganz gut zeichnen, das verändert die Einstellung der Leute zu mir. An die Stelle der Folies bergères ist dann später die Mode getreten. Wenn das dazu geführt hat, dass mir heute eine Ausstellung gewidmet ist, die um die Welt reist, dass Menschen mich hin und wieder – zum Glück nicht die ganze Zeit – auf der Straße erkennen, dann ist das umso besser. Ich bin aber froh, dass mich dieser Bekanntheitsgrad nicht von heute auf morgen überrollt hat. Und ich war zum Glück nie der Einzige, allein auf weiter Flur, wie etwa Vivienne Westwood eine Zeit lang in England, bis McQueen und John Galliano auftauchten. Der einzige wirklich bizarre Moment für mich war, glaube ich, als ich für die Premiere von Robert Altmans Film „Prêt-à-porter“ in New York war. Als ich da über den roten Teppich schritt, und zwar an der Seite von Lauren Bacall, riefen plötzlich alle Fotografen nur: „Jean Paul, hier! Zu mir, Jean Paul!“ Das fand ich schrecklich, wirklich scheußlich. Da war diese große Hollywood-Schauspielerin, und wegen des Altman-Films scherten sich plötzlich alle nur um mich, den Modedesigner. Vielleicht war es auch genau damals, als die Welt begann, sich komplett zu verändern. Wer weiß.

Nach Stationen in Montreal, Dallas, San Francisco, Melbourne, Stockholm und Paris ist die Ihnen gewidmete Mode-Retrospektive nun in die Münchner Kunsthalle gekommen. Hat Sie der weltweite Erfolg dieser Ausstellung überrascht?
Das kann ich so nicht sagen. Ich freue mich über den Erfolg. Und bei der Ausstellung ist es wie bei allen Projekten: Wenn ich mich einmal darauf eingelassen habe, tue ich alles, was in meiner Macht steht, damit das Ergebnis gut wird. Das Bestmögliche zu tun, das Bestmögliche von mir zu zeigen, war definitiv mein Anliegen. Dass das so gut funktioniert hat, freut mich natürlich umso mehr. Meine Herangehensweise war aber überhaupt nicht nostalgisch, ich habe mich nicht bei bestimmten Momenten aufgehalten und der Vergangenheit nachgeweint. Das ist nicht meine Art.

Eine Reise zur Eröffnung der Gaultier-Ausstellung erfolgte auf Einladung von Swarovski.

Tipp

„From the Sidewalk to the Catwalk“. Die große Gaultier-Retrospektive ist noch bis Februar 2016 in der Kunsthalle München zu sehen. www.kunsthalle-muc.de

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