Weiche Materialien im Härtetest

File photo of the off shore oil rig Deepwater Horizon fire, off Louisiana
File photo of the off shore oil rig Deepwater Horizon fire, off LouisianaReuters
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Hochleistungspolymere sind die Spitzensportler unter den Kunststoffen. Sie müssen hohem Druck standhalten, selbst wenn es sehr heiß ist. Öl- und Gasförderanlagen sind daher ein Testfeld für viele andere Anwendungen.

Hätte ein Stück Gummi eine Katastrophe verhindern können? Am 20. April 2010 fing die Bohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko Feuer. Zwei Tage später versank sie im Meer. Riesige Rohölmengen traten aus. Die Folge war eine gewaltige Ölpest, das Unglück gilt heute als die schwerste Umweltkatastrophe dieser Art in der Geschichte. In Untersuchungen wurde später festgestellt, dass unter anderem ein Dichtgummi an der Vorrichtung beschädigt war, die im Notfall das Ausströmen von Öl und Gas hätte stoppen sollen.

„Die Dichtung allein war nicht schuld, das war eher eine Verkettung vieler Faktoren, die nicht gepasst haben“, sagt der Kunststofftechniker Bernd Schrittesser. Er arbeitet am Leobener Polymer Competence Center (PCCL) daran, sogenannte Elastomere, also elastische Kunststoffe, wie sie für Dichtungen verwendet werden, zu verbessern. In der obersteirischen Stadt mit rund 25.000 Einwohnern werden Materialien für die internationale Erdöl- und Erdgasindustrie geprüft, charakterisiert und weiterentwickelt.

Bis zu 200 Grad Celsius heiß

Das bekannteste Beispiel eines Elastomers sei das Gummiringerl, so Schrittesser. Sein chemischer Aufbau erlaubt, dass es sich auseinanderziehen und etwa über ein Marmeladeglas stülpen lässt. In Öl- und Gasförderstätten oder auch der Geothermie, wo man Wärme aus der Erde als Energiequelle nutzt, müssen die Materialien freilich weit größeren Belastungen standhalten. Öl und Gas werden aus bis zu zehn Kilometern Tiefe mit rund 180 Grad Celsius gefördert, heißer Wasserdampf aus bis zu fünf Kilometern mit etwa 200 Grad.

Hier kommen Hochleistungsmaterialien zum Einsatz: etwa der besonders temperaturbeständige Fluorkautschuk (FKM) oder Hydrierter Acrylnitril-Butadien-Kautschuk (HNBR) – wegen seiner guten mechanischen Eigenschaften wird er häufig auch für Zahnriemen in Kraftfahrzeugen eingesetzt. Um die Vorteile verschiedener Materialgruppen zu verbinden, testet man in Leoben auch sogenannte Verbundstoffe. Ihr Anforderungsprofil liest sich wie das von Spitzensportlern: Sie müssen selbst unter widrigsten Bedingungen Höchstleistungen erbringen. Ob heiß oder kalt: Temperaturen dürfen kein Problem für sie sein. Dabei geht es aber nicht nur um extreme Hitze. Je nach Einsatzgebiet – Gummidichtungen werden ja etwa auch in der Raumfahrt gebraucht – müssen sie auch große Kälte aushalten. Das Material soll möglichst lange halten, zugleich aber günstig sein, bei der Verarbeitung wenig Energie brauchen und kaum Abfall produzieren.

Kautschuk wird gebacken

Die Kautschukreserven in der Natur reichen bei Weitem nicht aus, um den weltweiten Bedarf zu decken. Der Großteil des Materials wird daher künstlich mit großem technischen Know-how hergestellt. Damit sich die Polymere vernetzen und sich die Kautschukmasse verfestigt, müssen Elastomere in der Herstellung vulkanisiert, also gebacken, werden. Je nach gewünschten Eigenschaften variieren die Zutaten. Elastomere sind etwa keine guten Wärmeleiter. Um die Leitfähigkeit zu verbessern, werden bestimmte Füllstoffe beigemengt.

So verändern die an sich farblosen Werkstoffe auch ihr Aussehen. Bekanntes Beispiel: Um die mechanischen Eigenschaften von Autoreifen zu verbessern, nutzt man wiederum Russ als Füllstoff. Daher sind Autoreifen auch schwarz. Je nach Anforderung – ob Spaceshuttle, Automotor oder Ölförderung – braucht es also die richtige Materialmischung. Auch die Temperaturen in Motorhauben werden weiter zunehmen. Denn Europa will bis zum Jahr 2020 die Energieeffizienz weiter steigern und zugleich schädliche Emissionen einsparen. „Dazu werden auch bei kleineren Motoren höhere Verbrennungstemperaturen angestrebt, das stellt wiederum neue Anforderungen an die verwendeten Materialien“, so Schrittesser. Entwicklungen für Dichtelemente in Öl- und Gasindustrie und Geothermie, wo die Anforderungen noch deutlich größer sind, sieht er daher als ideales Testfeld. Gelingen dort Erfolge in der Materialentwicklung, lassen sie sich gut für andere Bereiche nutzen.

Risse schließen sich von selbst

Was aber passiert, wenn die Werkstoffe den Belastungen nicht standhalten? Wenn sich Risse bilden, das Material nach und nach verschleißt? Materialien, die sich selbst reparieren, sind die Vision der Forscher. Das sei ein Trend der letzten Jahre, sagt Chemikerin Sandra Schlögl, die am von Technologie- und Wissenschaftsministerium geförderten PCCL auch an extrem leistungsfähigen Verbundwerkstoffen für Elektrotechnik und Mikroelektronik arbeitet (siehe Beitrag unten). Erste Ansätze haben den Einzug in die Praxis bereits geschafft: Beschichtungen für Mobiltelefone etwa, die Kratzer am Display selbst wieder verschließen.

Seit den 1990er-Jahren wird an Mikrokapseln geforscht, die sich bei Bedarf öffnen und einen Riss kitten. Sie können an einer Stelle allerdings nur einmal wirken. Man wolle daher das Material und seine Mechanismen noch besser verstehen, so Schlögl. In neuen Ansätzen wollen die Forscher den Werkstoff so verändern, dass sich Polymerketten öffnen und auch schließen können.

Die Mechanismen ließen sich sogar so gestalten, dass sie erst ab bestimmten Temperaturen, etwa bei mehr als 100 Grad Celsius, wirken, sagt die Forscherin. Damit käme man der Vision, Ölkatastrophen wie die der Deepwater Horizon zu verhindern, zumindest ein kleines Stück näher.

LEXIKON

Polymere oder Kunststoffe (umgangssprachlich auch als Plastik bezeichnet) bestehen aus sich wiederholenden Makromolekülketten. Ihre Struktur bestimmt die Eigenschaften des Stoffs.

Bei Elastomeren sind die Hauptketten weitmaschig vernetzt. Sie können sich elastisch verformen und dann wieder die ursprüngliche Gestalt annehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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