Leute, die beim Reden auf die Uhr schauen

(c) FABRY Clemens
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Der Moment, in dem sich das Narrenkastl in Form eines Zifferblatts deutlich zu erkennen gibt.

Wie lang dauert es eigentlich, die Uhrzeit von einer Armbanduhr abzulesen? Bitte nicht falsch verstehen, als Nichtuhrenträger interessiert einen diese Frage wirklich. Vor allem dann, wenn man jemandem gegenübersteht, der während eines Dialogs eine halbe Minute lang mit abgewinkeltem Arm die Uhrzeiger zu hypnotisieren scheint. Das Gespräch geht in dieser Zeit des verhinderten Augenkontakts ganz normal weiter. Und man sieht regelrecht, wie der Uhrenbetrachter in seinem Gehirn eine gigantische Kalenderwand aufbaut, in die er all seine Gedanken zur Planung der nächsten Stunden einträgt. Shine on you crazy Augenkontakt, wozu jemanden anschauen. Den gleichen Effekt gibt es übrigens auch, wenn jemand mit einem Blatt Papier in der Hand vor einem steht – und während des Gesprächs mit den Augen ein Loch in den Zettel zu starren scheint. In Fällen wie diesen lässt sich im Papier – oder auf dem Zifferblatt – das Narrenkastl fast schon direkt greifen.

Bitte auch das nicht falsch verstehen, es ist gut, wenn Menschen beim Sprechen nicht ständig direkt in die Augen des Gegenübers starren. Wenn sie in die Luft schauen, während sie etwas visualisieren. Nach unten, wenn sie über Gefühle nachdenken. Oder auf den Mund des Gegenübers, wenn ein Stück Blattspinat genau auf dem Schneidezahn klebt. Es ist geradezu angsteinflößend, wenn ein Mensch den Blick nicht von den Augen des anderen lösen kann. Wie ein Reh im Fernlicht steht man dann da und wagt sich nicht mehr zu bewegen – nur dass weder auf Abblendlicht umgeschaltet und abgebremst wird, noch der Krach des Zusammenpralls folgt. Ziemlich angespannte Situation, das. Im Zweifel also bitte ruhig auf die Uhr schauen, auch gern länger, wenn ein Gespräch mit mir ansteht. Ich nutze die Zeit ebenfalls zielführend – mir könnte zum Beispiel einfallen, worüber ich einmal eine Kolumne schreiben könnte.

E-Mails an:erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2015)

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