Unsterbliches Gelee

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Sie werden so gefürchtet wie bewundert, die Quallen. Viele Biologen halten sie für den Fluch der Meere, andere suchen in ihnen den Jungbrunnen.

Es gibt ein Raubtier, das ist so einfach gebaut, dass es nicht einmal ein Maul hat. Aber das reißt es weit auf, wenn Futter vorbeikommt: Es reißt die ganze Haut am Schädel auf, oft so weit, dass Beute hineinpasst, die größer ist als es selbst. Die saugt es ein, dann schließt sich die Wunde. Zum Ausscheiden des Verdauten reißt es sie wieder auf, dann wird wieder geschlossen und so weiter.

Dieses Wesen könnte Modell gestanden haben für die Lernäische Hydra, der Herkules einen Kopf nach dem anderen abschlug, es kamen immer neue und immer mehr. Aber es kann nicht Modell gestanden haben: Es lauert am Grunde von Gewässern, und es ist klein – zwei, drei Zentimeter –, erstmals näher in Augenschein genommen wurde es 1740: „Bei der Operation, die ich mit den Polypen ausführte, habe ich sie in die linke Hand genommen und mit der rechten Hand eine Schere um sie geführt“, berichtete der Naturforscher Abraham Trembley: „Dann habe ich die Schere geschlossen.“ Wie immer er schnitt, ob längs oder quer – bald waren wieder zwei vollständige Exemplare da. Und als er gezielt den Kopf abschnitt, wuchsen sieben neue.

Trembley entsann sich des Mythos und nannte das Wesen danach: Hydra. Das ist ein Süßwasserpolyp, er gehört mit den Quallen zu den Hydrozoa, einer Untergruppe der Nesseltiere, die vor 550 Millionen Jahren kam. Schon das ist rätselhaft: Nesseltiere jagen mit Giften, die sie aus Tentakeln schleudern – aber als sie entstanden, gab es kaum andere Vielzeller, was haben sie gejagt? Und wie bewerkstelligen just diese ganz frühen Tiere das Mirakel der Unsterblichkeit bzw. Wiedergeburt aus Teilen, gar einzelnen Zellen?

Für das und für ihre ganz normale Vermehrung en masse werden sie so gefürchtet wie bewundert, Letzteres in Labors von Molekularbiologen, Ersteres an Stränden und in Meeren: Manche Quallen haben Gifte, die für Menschen tödlich sind, Cynea etwa, die Löwenmähne, sie hat in einem Fall von Sherlock Holmes die Mörderrolle; oder Chironex fleckeri, die Seewespe, sie hat das stärkste aller Gifte der Natur. Andere sind auch nicht ohne: Allein an Australiens Küsten sterben mehr Menschen an Quallen als weltweit durch Haie.

Und es geht nicht nur um Badegäste, es geht auch um die Meere: Periodisch blühen Quallen so massenhaft, dass etwa Kuba ein AKW stilllegen musste, weil sie die Kühlwasserrohre verstopft hatten (Wall Street Journal 15. 9. 1999). Und als 2007 ein Schwarm an eine Lachszucht bei Norwegen geriet, blieb keiner der 100.000 Fische am Leben. Solche Fälle befördern Weltuntergangsvisionen von Meeren, die voll sind mit dem Gelee, das sich alles andere einverleibt hat. Regional gab es das schon, das Schwarze Meer sah einmal so aus, als Quallen im Ballastwasser von Schiffen gekommen waren. Nichts half, erst andere Quallen, wieder in Ballastwasser gereiste, räumten auf.


Nahrhaft? So wundert es wenig, dass die Glibbersäcke – zu 95 Prozent sind sie Wasser – auch unter Forschern wenig Freunde haben. „Es war sehr hart, Fischbiologen davon zu überzeugen, dass Quallen wichtig sind“, berichtet Jennifer Purcell (Western Washington University), die seit 40 Jahren Quallen erkundet und nachsieht, wozu sie doch nütze sind (Nature 531, S. 433). Als Futter etwa? Zwar wusste man, dass Meeresschildkröten gern zugreifen. Aber sonst jemand? In Fischmägen zeigt sich kaum etwas, das mag daran liegen, dass das wässrige Zeug rasch verdaut wird und keine Spuren hinterlässt, keine mit bloßem Auge sichtbaren zumindest.

Deshalb hat Luis Cardena (Barcelona) über Isotopenanalysen rekonstruiert, was Fische gefressen haben: Ausgerechnet bei jungen Thunfischen lag der Quallenanteil am Futter bei 80 Prozent. Thunfische mit ihrem extremen Energiebedarf sollen sich von etwas ernähren, was kaum Nährwert hat – in manchen Quallen steckt unwesentlich mehr Energie als in grünem Tee?

Das glaubte nicht einmal Purcell, aber Cardena kam in Analysen von Fettsäuren zum gleichen Ergebnis. Und er blieb nicht allein: Simon Jarman (Kingston) bemerkte in der Antarktis, dass Quallen zum regelmäßigen Futter vieler Pinguine zählen, auch zu dem von Albatrossen (PLoS ONE 8, e82227); Und Andrew Jeffs (University of Auckland) staunte bei Quallenverwandten, Thetys vagina: Auf diesen saßen junge Langusten, und die stillten ihren auch enormen Hunger an ihnen: „Sie hängen sich fest an etwas, was mehr oder weniger ein Klumpen Fleisch ist, und leben ein paar Wochen davon, ohne irgendeine Energie aufzuwenden“ (ICES Journal of Marine Science 72, i124).

Aber Quallen transportieren nicht nur unerbetene Gäste oben durch das Meer, sie transportieren, wenn sie denn doch einmal sterben, auch sich selbst bzw. ihre Nährstoffe in die Tiefe. Das fiel Andrew Sweetman (Stavanger) auf, erst an einem Fjord in Norwegen, dann auch im Pazifik: Nach Quallenblüten oben blühte das Leben unten, auf dem Meeresgrund warteten schon Krabben etc. auf den herabsinkenden Segen, vor allem den Stickstoff darin: „Quallen sind keine Sackgassen der Nahrungskette“ (Proc. Roy. Soc. B 281, 20142210).

Sondern sie nähren, auch Hoffnungen von Molekularbiologen, man könne den Jungbrunnen der Nesseltiere in einen für Menschen verwandeln. Vor vier Jahren sah man sich, an Hydra, nahe am Ziel: Der Quell ihrer Unsterblichkeit liegt in der Körpermitte – dort lag er auch bei der Lernäischen Hydra, dort versetzte Herkules ihr den Todesstoß –, von da wandern Stammzellen unentwegt in den restlichen Körper und spezialisieren sich. Im Labor von Thomas Bosch (Kiel) fand sich das zuständige Gen, FoxO, es hat sich in der Evolution erhalten, bis zum Menschen, besonders aktiv ist es in besonders langlebigen (Pnas 109, S. 19697).

Aber wie es aktiviert wird, durch welche Umweltbedingungen, ließ sich bisher nicht klären, Hydra gab es nicht preis, dafür riss sie ihr Maul nicht auf. Vielleicht sind Ohrenquallen gesprächiger, an ihnen hat Jinru He (Xiamen) eine andere wundersame Verjüngung bemerkt (PLoS ONE 10: e0145314): Quallen haben zwei Lebensstadien, ein am Boden verankertes als Polypen (wie Hydra), und ein frei schwebendes als Medusen, sie knospen sich von Polypen ab. Und wenn sie tot sind, als Medusen, stehen sie wieder auf, als Polypen, aus denen wieder Medusen werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2016)

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