Mit dem Wald gegen die soziale Misere

Wald
Wald(c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

In einer Neuen Mittelschule am Wiener Stadtrand setzt man erdige Mittel ein, um Verhaltensauffälligkeiten und fehlenden Teamgeist der Schüler zu bekämpfen.

Wien. Das Mädchen hat ganz offensichtlich große Scheu davor, den Baum zu berühren. Es streckt seine Hände zaghaft aus, zieht sie aber nach kurzem Kontakt mit der rissigen Rinde wieder zurück. Die Augen sind verbunden, zwei Klassenkolleginnen haben die Zehnjährige zu der Buche geleitet, vor der sie nun steht. „Du kannst ruhig hingreifen, da ist keine Spinne“, ermutigen die beiden anderen sie. Doch das Mädchen löst die Augenbinde: „Ich sage doch, ich habe keine Ahnung von Bäumen.“

Viele Wiener Kinder haben kaum Kontakt zur Natur. Dabei entspannt der Wald, er schärft die Sinne, er bietet Raum und Freiheit, er erdet. Und ist somit ein idealer Ort für Kinder. Dass diese kaum noch im Freien umherstreifen, sei eine zivilisatorische Katastrophe, hieß es 2010 im Magazin „Geo“. Eine These, die Direktorin Sylvia Vogt beeindruckte – und sie auf die Idee eines pädagogischen Schwerpunkts brachte. Einige Zeit schon war sie auf der Suche nach neuen Methoden für ihre Schule. Die Brückenschule, eine NMS gleich beim Liesinger Platz, hat einen hohen Anteil an Problemschülern. Über die Jahre waren die Schwierigkeiten immer stärker in den Mittelpunkt gerückt: Viele verhaltensauffällige Schüler standen einer alternden Lehrerschaft gegenüber, die mit herkömmlichen Methoden nicht mehr zum Ziel kam. Die Eltern waren keine Hilfe, sondern selbst überfordert. „Dann kam noch Mobbing über Social Media hinzu“, erzählt die Direktorin. „Wir haben vieles probiert, aber nichts half nachhaltig.“

Die Idee, dass der Wald helfen könnte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, und sie schaffte es, vom Stadtschulrat Mittel für das einzigartige Konzept zu bekommen. „Die Umsetzung unseres Schwerpunkts ist eine logistische Herausforderung, es ist ein Jonglieren im Rahmen des Möglichen“, sagt Vogt. Das Ergebnis der Bemühungen ist, dass die Schule eine Möglichkeit gefunden hat, gegen die Verhaltensauffälligkeiten anzugehen und den Kindern Teamgeist zu vermitteln. Seit „Wald“ ein Schulfach sei, für die erste Klasse als Übung mit zwei Stunden pro Woche organisiert, habe man auch Verbesserungen beim Lernen in der Klasse festgestellt. Das Klima sei besser. Weshalb die Lehrer hinter dem einzigartigen Zugang stehen, der für sie auch viel Arbeit bedeutet.

In weniger als einer halben Stunde kommt man von der Schule zu dem Waldgrundstück in Rodaun, das dessen Besitzer der Brückenschule zur Verfügung gestellt hat. Nur zum Teil tragen die Erstklassler geeignetes Schuhwerk an diesem trüben Donnerstag. Stück für Stück kämpfen sie sich über eine steile Waldböschung nach oben.

Einen Fuß vor den anderen

„Wie soll ich da gehen?“, jammert ein Kind. „Immer einen Fuß vor den anderen“, antwortet die Waldpädagogin Kathrin Kurzbauer lapidar. Sie führt die Erstklässler alle zwei Wochen durch die Natur, öffnet ihnen gekonnt Augen und Ohren, macht ihnen ihre Umgebung bewusst. Mit einer halben Lehrverpflichtung steht sie der Schule zur Verfügung; man würde den Kindern mehr Zeit wünschen.

Wichtig sind die Ausflüge vor allem auch für die Gemeinschaft. Die Kinder lernen sich besser kennen, Problemen wie Mobbing oder Konflikten zwischen verschiedenen Zuwanderergruppen – 75 Prozent der Kinder haben Migrationshintergrund – wird vorgebeugt. Die meisten Stunden bekommt der Wald deshalb in der ersten Klasse. Tatsächlich ist schnell ersichtlich, wie unruhig die Zehnjährigen sind, wie schwer sie sich konzentrieren können, wenn sie ihre verschiedenen Gruppenübungen machen. „Schließt eure Augen. Was hört ihr?“ Die Kinder brauchen viel Anleitung, viel Aufmerksamkeit. Im ersten Jahr an der NMS wollen ihre Lehrer ihnen zumindest eine Haltung vermitteln, die Lernen ermöglicht. Den Lehrplan zu erfüllen sei zu Beginn ohnehin illusorisch.

Die Erstklassler im Wald berichten der Reihe nach, was sie gehört haben: Sie lernen, ihre Umwelt wahrzunehmen.

AUF EINEN BLICK

In der NMS Brückenschule ist das Fach „Wald“ für die fünfte und sechste Schulstufe eine verbindliche Übung. Die Erstklässler dürfen alle zwei Wochen vier Stunden in den Wald, die Zweitklässler einmal im Monat. Für die dritten und vierten Klassen gibt es pro Semester zwei Waldlehrausgänge. Für die Eltern ist das gratis; die Waldpädagogin ist mit halber Lehrverpflichtung angestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.