Jihad-Ausreisen annähernd gestoppt

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AFP PICTURES OF THE YEAR 2015-SYRIA-TURKEY-IRAQ-US-CONFLICTAPA/AFP/BULENT KILIC
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Die Infiltrierung radikaler Netzwerke bedingt ein Ende der Wanderungsbewegungen. Aber: Die Rückkehrer vernetzen sich zusehends.

Wien. Exakt 259 Akten führte das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) mit Stichtag 31. Dezember 2015 über Personen, die von hier aus nach Syrien oder in den Irak in den Jihad zogen, oder zumindest ziehen wollten. Doch das logistische Fundament der islamistischen Milizen in Österreich scheint brüchig geworden zu sein. Nach aktuellen Erkenntnissen ist die Wanderungsbewegung von Kämpfern, Unterstützern und Sympathisanten des sogenannten Islamischen Staats (IS) annähernd zum Erliegen gekommen. Nach Einschätzungen des Staatsschutzes bedeutet das jedoch nicht, dass das Risiko, das insbesondere von den heimgekehrten Personen ausgeht, sinkt. Diese nämlich, heißt es aus der Behörde, würden sich immer stärker untereinander vernetzen.

„In Bezug auf die Neuausreisen nähern wir uns dem Nullpunkt an.“ So lautet der doch etwas überraschende Befund eines BVT-Manns aus dem Fachbereich für strategische Analysen. Seit Jahresbeginn nämlich registrierte das Amt nur noch Einzelfälle. Nach 59 im Vorjahr und stattlichen 136 im Spitzenjahr 2014. Aber warum?

Der Staatsschutz sieht die Entwicklung vor allem als Folge der eigenen Arbeit. Bereits unmittelbar nach der Festnahme des aktuell in Graz vor Gericht stehenden Predigers Mirsad Omerovic (alias Ebu Tejma) im Herbst 2014 ging die Zahl der Neuausreisen sogenannter Foreign Fighters aus Österreich deutlich zurück. Zudem gelang es im Zuge der Ermittlungen, Seitenstränge, Mittelsmänner und Kontaktleute des Netzwerks aufzuspüren.

Die gesamte Szene, so die Erkenntnis der Abteilung für Informationsgewinnung im BVT, sei vorsichtiger geworden. Und das nicht nur, weil ruchbar wurde, dass es den Behörden – mit welchen Mitteln auch immer – gelungen war, Informationen aus den inneren Zirkeln zu beschaffen. Tatsächlich beeindruckt haben dürften die mit IS-Gedankengut sympathisierenden Kreise vor allem die langjährigen Haftstrafen, zu denen inzwischen mehrere aus Österreich losgereiste Jihadisten verurteilt wurden.

Prävention wirkt

Neben den repressiven Maßnahmen, der einerseits bereits erfolgten (50 Beamte) sowie zusätzlich geplanten personellen Verstärkung des BVT (weitere 70 Stellen innerhalb der nächsten zwei Jahre), sieht man im Verfassungsschutz jedoch auch das Greifen präventiver Maßnahmen im Bereich Deradikalisierung. Im Zuge der Kontakte und Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle Extremismus, dem Verein Derad oder anderen Jugendeinrichtungen, die Mitgliedern der potenziellen Zielgruppe der islamistischen Menschenfänger sehr nahe stehen, konnte man nach eigenen Angaben bereits mehrfach erfolgreich in den Prozess der Radikalisierung von Personen eingreifen.

Von Entwarnung kann jedoch keine Rede sein. Auch wenn die Ausreisen, oder präziser, jene, die dem Verfassungsschutz bekannt sind, deutlich zurückgehen: „Die Zahl der Anhänger des salafistischen Jihadismus steigt in Österreich.“ So lautet nur ein bedenklicher Befund des Amts zum aktuellen Lagebild. Ein anderer beschreibt die Aktivitäten jener 79 Personen, die aus den Kriegsgebieten nach Österreich zurückgekehrt sind. Bei Weitem nicht alle stehen oder standen vor Gericht, viele befinden sich auf freiem Fuß. Unter anderem deshalb, weil bisher nur wenig belastbare Geheimdienstinformationen über sie vorliegen. „Diese Personen, teilweise mit militärischer Ausbildung an Waffen und mit Sprengmitteln, vernetzen sich stark untereinander. Im Inland und im Ausland“, heißt es im Ermittlungsdienst des Staatsschutzes.

Es sind genau diese Netzwerke von Rückkehrern, in denen die jüngsten Anschläge von Brüssel und Paris geplant wurden. Netzwerke, über die die Sicherheitsbehörden einzelner EU-Länder sogar (Geheimdienst-)Informationen haben, diese jedoch nur selten mit Dritten teilen. Beispielsweise wurde der spätere Paris-Attentäter Salah Abdeslam, wie berichtet, Wochen vor dem Anschlag, nämlich im September 2015, mit zwei weiteren Personen in Oberösterreich auf der Autobahn kontrolliert. Weil in Bezug auf Terrorismus nichts im Schengen-Informations-System (SIS) vorlag, durften die Männer weiterfahren. Der Staatsschutz erfuhr nicht einmal davon. Nun wurde aber bekannt, dass bei Diensten von EU-Staaten gegen die beiden Mitfahrer Informationen vorlagen, die einen IS-Bezug herstellten.

Datenaustausch mangelhaft

Einer der zwei sprengte sich am 22. März in Brüssel mit weiteren Attentätern selbst in die Luft. Der andere wurde ihm Rahmen einer Razzia ganz in der Nähe und nur wenige Tage vorher von der Polizei erschossen.

Die Episode von der „blinden“ Kontrolle dreier Terroristen auf einer österreichischen Autobahn ist Anlass dafür, dass man beim Staatsschutz auf einen intensivierten Austausch von Hinweisen auf EU-Ebene drängt. Bisher tun das nur fünf von 28 Mitgliedstaaten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2016)

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