Ich seh dir in die Augen, Kleines

(c) Die Presse - Clemens Fabry
  • Drucken

Der Moment, in dem sich Augen treffen, kann entscheidend sein. Das soll in der Liebe so sein, das ist umso mehr im Alltag so.

Der Moment, in dem sich Augen treffen, kann entscheidend sein. Das soll in der Liebe so sein, das ist umso mehr im Alltag so. Im Bruchteil einer Sekunde also wird die Zukunft bestimmt. Auch im Zug. Der richtige Sitzplatz kann eine Zugreise zu einem Vergnügen machen, der falsche zu einem Höllentrip. Da geht es nicht nur um die Fahrtrichtung und den Abstand zur nächsten Tür, sondern auch um die Menschen in der Umgebung. Die man sich nicht aussuchen kann. Es sei denn, man befolgt die Regel mit dem Augenkontakt.

Hat man etwa den perfekten Platz gefunden (oder reserviert), muss auch das Umfeld gegen Eindringlinge verteidigt werden. Wenn sich Verzweifelte auf der Suche nach einem freien Sitz durch den Mittelgang zwängen, dürfen Sie keinesfalls aufblicken. Lesen Sie um Ihr Leben, seien Sie beschäftigt wie noch nie, schauen Sie niemals einem Suchenden ins Gesicht. Denn sobald sich Ihre Augen treffen, wird er fragen, ob bei Ihnen noch frei ist. Und Sie werden hilflos nicken.

Genau die gegenteilige Strategie ist hingegen nötig, wenn man an einem Wochenende bei bestem Wetter in einem überfüllten Lokal die Aufmerksamkeit eines Kellners gewinnen will. Er wird alles tun, um Ihren Blicken auszuweichen. Denn, wenn er den Durst und den Hunger in Ihren Augen sieht, kann er nicht mehr vorbeieilen. Nur ganz Abgebrühte können ihren Augen verbieten zu sprechen. Darum wird so viel auf den Boden geschaut, auf den Tisch gestarrt, ins Telefon geblickt. Und in Besprechungen mit den Augen gerollt.

Zu den populären Irrtümern zählt hingegen jener Satz aus „Casablanca“, der schon viele Herzen schmelzen ließ. „Ich seh dir in die Augen, Kleines“, sagt Humphrey Bogart in „Casablanca“ mehrmals zu Ingrid Bergman. Im Original sagte Bogart: „Here's looking at you, kid“, was eher als Trinkspruch gemeint gewesen sein dürfte, im Sinne von „Ich trink auf dich“. Tatsächlich musste Rick gar nicht mehr seine Blicke in Ilsas Augen versenken. Sie war ihm schon lang verfallen.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.