Das ewige schlechte Gewissen

Manche Mütter haben ein besonderes Talent gegenüber ihren Kindern ein schlechtes Gewissen zu haben.
Manche Mütter haben ein besonderes Talent gegenüber ihren Kindern ein schlechtes Gewissen zu haben.(c) imago/Westend61
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Frauen, speziell Mütter, sind offenbar besonders anfällig für Schuldgefühle. Woher dieses Gefühl kommt und was man dagegen tun kann, erklärt Psychologin Helga Kernstock-Redl.

Es ist ein hartnäckiges Gefühl. Eines, das immer wieder auftaucht. Und allein dadurch, dass es so oft auftaucht, schon seine Berechtigung zu haben scheint: das unangenehme Gefühl der Schuld, das schlechte Gewissen etwas falsch gemacht zu haben und vor allem etwas besser machen hätte können. Und es ist etwas, das bei Frauen öfter aufzutauchen scheint als bei Männern. Natürlich lässt sich das schwer belegen. Und Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber selbst jenen, die kaum davon betroffen sind, fallen sie auf: Frauen, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie auch nur für ein paar Stunden nicht bei ihrem Kleinkind sind (und die Tatsache, dass es hervorragend vom Kindsvater, der Großmutter oder sonst einer Bezugsperson betreut wird, ausblenden). Frauen, die sich schuldig fühlen, weil sie ihrem Arbeitgeber erklären müssen, dass sie die Elternteilzeit in Anspruch nehmen wollen und das zu einem für den Arbeitgeber ungünstigen Zeitpunkt. Oder jene Frauen, die das Gewissen plagt, weil sie zwei Wochen auf Urlaub waren und dann noch eine dritte arbeitsfreie Woche krankheitsbedingt anhängen mussten.

All das kann auch Männern passieren. Die wenigen Untersuchungen, die es dazu gibt, weisen jedoch darauf hin, dass Frauen dafür besonders anfällig sind. Eine spanische Studie der Universität des Baskenlandes in San Sebastian aus dem Jahr 2010 hat anhand einer Befragung von 360 Männern und Frauen herausgefunden, dass sich Frauen schneller schuldig fühlen als Männer. Während Frauen egal welcher Altersgruppe ein recht ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und auch schnell Schuldgefühle haben, stellt sich das bei Männern erst ab einem Alter von 40 bis 50 Jahren ein. Das Forscherteam führt das auf die Erziehung zurück.

Sich mitverantwortlich fühlen. Das deckt sich auch mit der Erfahrung der österreichischen Psychologin, Psychotherapeutin und Fachbuchautorin Helga Kernstock-Redl. Wobei sie alltägliche Schuldgefühle und jene, die schwer Traumatisierte plagen, unterscheidet. „In meiner Praxis, wo ich vor allem Coaching anbiete, ist es tendenziell so, dass sich Frauen mehr verantwortlich fühlen, zum Beispiel wie es dem Gegenüber emotional geht. In dem Moment, wo ich Verantwortung übernehme, lauert das Schuldgefühl. Im Therapiezentrum, wo ich mit schwerst Traumatisierten arbeite, sehe ich hier keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern“, sagt sie.

Wobei sich das Schuldgefühl in ein rationales und irrationales unterscheiden lässt. Das rationale Schuldgefühl hat auch im Einzelfall seine Berechtigung, weil man einen Fehler gemacht hat. Den kann man meistens wieder gut machen, wenn auch nicht in dem Sinn, dass man die Sache rückgängig macht, sondern indem man eine Form der Wiedergutmachung, etwa auch durch eine (symbolische) Strafe oder Buße, leistet. So banal das klingen mag, das Gesetz bietet dafür einen guten Orientierungspunkt. Kernstock-Redl konfrontiert genau damit gern ihre Patientinnen. „Begründete Schuld ist das, was im Gesetz als Voraussetzung für Schuld gewertet wird. Laut Gesetz braucht sich niemand schuldig fühlen, der ein Kind ist, der keine Wahlmöglichkeit hat, der in Not handelt oder nicht zurechnungsfähig ist.“

Schwieriger ist es hingegen mit dem irrationalen Schuldgefühl, das sich etwa dann gerne einstellt, wenn man für etwas Verantwortung übernimmt, wofür man eigentlich gar keine haben kann. Zum Beispiel, dass sich alle wohl fühlen, dass es allen gut geht und dass niemand enttäuscht wird. Eine Anforderung, die selten ein Mensch für alle anderen erfüllen kann.

Dahinter steckt manchmal ein übermäßig hohes Maß an Empathie, aber auch ein geringes Selbstwertgefühl oder überzogene „innere Regeln“, wie es Kernstock-Redl nennt. Vielen Frauen sei zwar bewusst, dass sie darunter leiden, aber nicht, was man dagegen machen kann: Die Regeln brechen zum Beispiel, genau genommen sie zu hinterfragen, sich zu fragen, woher sie eigentlich kommen (also ob man sie sich selbst auferlegt hat oder ob es die Umgebung so fordert) und ob man weiterhin nach ihnen leben will. Wenn es ganz schlimm ist, geht das selten ohne professionelle Hilfe. Kernstock-Redl erinnert sich an einen Patienten, der auf die Bemerkung über das schöne Wetter mit folgendem Satz reagierte: „Oh Gott, und sie müssen jetzt wegen mir drinnen sitzen.“ Sie sagt: „Wo Menschen gar keine Rechte für sich in Anspruch nehmen, fühlen sie sofort Schuldgefühle.“

Illusionen loslassen. Das Schuldgefühl, dass Mütter oft plagt, nennt die Psychologin auch ein Stück Trauerarbeit. „Weil man die Illusion loslassen muss, die die meisten Menschen, die Kinder kriegen, haben: die sichere Hoffnung, dass es ganz, ganz gut werden wird. Im Laufe der Jahre sieht man aber, dass das nicht möglich ist. Man kann Kinder nicht vor allem beschützen. Und man kann vorher nicht wissen, was man erst nachher weiß.“ Ein Schuldgefühl kann dabei helfen, weil es zumindest das Gefühl gibt, man tut etwas dagegen.

Positive Seiten. Das Schuldgefühl kann also auch etwas Positives haben. In ganz extremen Fällen ist Schuld gar eine Überlebensstrategie, um ein Ohnmachtsgefühl zu überdecken, weil man sonst die Ausweglosigkeit (zum Beispiel als Gewaltopfer) nicht ertragen könnte. Im Alltag allerdings kann Schuld auch ein Antrieb für soziales Verhalten sein. Im Gegensatz zur Scham aktiviert Schuld. Sie gibt uns die Möglichkeit etwas wieder gut zu machen. Wer etwa einem Kind, das absichtlich einen Fehler gemacht hat, nicht die Möglichkeit gibt, wenn auch nur symbolisch, Buße zu tun, befreit es nicht von dem Schuldgefühl. „Schuldgefühl ist ein wichtiger sozialer Antrieb, ohne Schuldgefühl gibt es keine Gemeinschaft.“

Problematisch ist es, wenn es Überhand nimmt, man das Gefühl nicht mehr los wird oder es sich schon vorsorglich einstellt. „Schuldig können wir uns spannenderweise auch für etwas fühlen, das noch nicht passiert ist oder passieren hätte können. Menschen sind sehr erfinderisch, was Schuldgefühle betrifft“, so Kernstock-Redl. Manche Frauen ganz besonders.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2017)

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