Lebensstil: Verschwimmende Generationsgrenzen

Lebensstil Verschwimmende Generationsgrenzen
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Wir sind alle "Kidults": Die Grenzen zwischen den Generationen sind in Auflösung begriffen. Am Ende finden wir nur mehr immer kindlichere Erwachsene und Kinder, die nicht mehr Kind sein wollen.

Alt und Jung waren gestern. Längst sind die Generationengrenzen in Auflösung begriffen. War bis vor Kurzem noch in Stein gemeißelt, wie man sich in welchem Lebensalter zu benehmen hatte, wie zu kleiden und welche Verantwortung man wann zu tragen und wann wieder abzugeben hatte, wackeln diese Parameter mittlerweile gehörig. Immer mehr Menschen weigern sich, auf ausgetretenen Pfaden zu trampeln.

Diese Verweigerung wird derzeit noch gerne als Einzelerscheinung betrachtet und etikettiert: Etwa die Kinder, die immer früher immer älter werden; Produkte eines partnerschaftlichen Erziehungsstils, in dem der Respekt vor der Eltern- und älteren Generation erst unter „ferner liefen“ kommt. Dann die Generation „Weiß nicht“ der 20- bis 30-Jährigen, die wiederum fast „kindische“ Verhaltensweisen an den Tag legen, sich für nichts entscheiden und sich an niemanden binden können; 50–Jährige, die dieselbe Musik hören wie ihre Kinder und ähnliche Kleidung tragen, nur teurer. Und die wachsende Gruppe jenseits der 60, die der „Anti-Aging“–Industrie zu sensationellen Umsätzen verhilft und bis zur endgültigen Ankunft der „Jugendpille“ mit den Jungen um die Wette joggt.


Verweigerung einer Norm. Gemeinsam ist allen diesen Entwicklungen, dass sie von den Wächtern der gesellschaftlichen Kontinuität im Grundton negativ beurteilt werden. Bei den Kindern schwingt dieser zwischen „gefährlich“ und „gefährdet“ hin und her, bei den mittelalterlichen Personen pendelt er sich bei „Versager“ ein, bei den Alten bei „lächerlich“. Doch die Weigerung, sich einer genormten Lebensweise zu fügen, kann auch ihr Gutes haben.

Das findet zumindest Thomas (51). Der Puppenspieler und Betreiber des Wiener Praterkasperls sah nie einen Grund, sich mit 50 wesentlich anders zu kleiden als mit 20. Oder darauf zu verzichten, sich die Haare zu färben. Oder seinen Kindern nicht nur beim Einradfahren zuzusehen, sondern das selbst zu lernen. Auch wenn er manchmal eher unsanft darauf hingewiesen wird, dass er damit in den Augen mancher aus der Art schlägt.

So wie damals, an einem warmen Frühlingsmorgen. Thomas hatte seine Tochter gerade mit dem Roller in die Volksschule begleitet und war auf dem Heimweg. Gemächlich rollerte er auf dem Gehsteig, als er jäh zu einer Bremsung gezwungen wurde. Ein Mann stand vor ihm, im Anzug, ungefähr in Thomas' Alter. „Na“, sagte der Fremde spöttisch. „Willst auch noch an Schlecker?“ – „Bist du vielleicht neidisch?“, gab Thomas zurück. „Kannst du nicht Roller fahren?“ – „Doch“, erwiderte der Mann. „Aber ich kann auch in Würde altern.“ Damals, sagt Thomas, habe er beschlossen: „In Würde altern kann ich nicht. Das dafür aber sehr gut.“

Thomas hat sich gegen eine „geregelte Tätigkeit im Sinne einer Arbeit from 9 to 5“ entschieden – inklusive aller finanziellen Nachteile –, aber er wehrt sich dagegen, ein „Unentschlossener“ oder ein „Peter Pan“ zu sein. „Ich lege mich in allen möglichen Bereichen fest“, sagt der zweifache Familienvater. „Worauf ich keine Lust habe, ist, für eine Zukunft, die vielleicht stattfindet, vollständig auf die Gegenwart zu verzichten.“

Dieses Gefühl verbindet Thomas mit Martin, der immerhin 20 Jahre jünger ist als er. Martin hatte eigentlich schon sehr früh eine Lebensplanung – bis zur Matura. „Als Kind wollte ich Mediziner werden, in der Pubertät Lehrer. Nach der Matura haben sich andere Realitäten aufgetan. Ich habe realisiert, dass man nicht eine Karriere und einen fixen Job braucht, sondern auch von vielen kleinen leben kann“, sagt der heute 29-Jährige. Nach einem Jahr Warten auf den Zivildienst – „Job hab ich keinen bekommen, weil ich ja den Zivildienst noch nicht hatte“ – und nach dessen Absolvierung fing er mit einem Publizistik-Studium an. Vor drei Jahren hat er es abgebrochen und lebt seitdem von Gelegenheitsjobs.

Martin ist aber nicht das, was böse Zungen einen „Loser“ nennen, einer, der keine Ziele und keine Interessen hat. Die hat er sehr wohl, sie sind ihm nur wichtiger als ein Job. Seine große Leidenschaft ist die Musik. „Die ist mir zu wichtig. Ich will sie weiter als Hobby behalten, um nicht die Liebe dazu zu verlieren.“ So hält er sich daneben durch Jobs als Kassier oder Kosmetik-Verkäufer über Wasser, um nebenbei Musik zu machen. Allerdings hofft auch er, dass er endlich etwas Fixes findet, das auch länger hält. Dass das nicht leicht wird, weiß er: „Die jetzige Arbeitsmarktsituation ist mit Idealismus inkompatibel.“


Selbstverwirklichung. Während Thomas in seiner Altersgruppe eher die Ausnahme darstellt, darf sich Martin als einer von vielen 30-Jährigen wähnen. „Die Lebenswege sind nicht mehr so klar vorgegeben wie vor dreißig Jahren. Früher hat man das gemacht, was einem die Eltern empfohlen haben“, sagt Kinder- und Jugendpsychologin Claudia Rupp vom Berufsverband Österreichischer PsychologInnen. Heute heißt das Zauberwort „Selbstverwirklichung“. „Finde etwas, das zu dir passt, sei flexibel, schau dir die Welt an“, lautet der Rat für Jugendliche, der sie allerdings auch überfordern kann. Und: Das Suchen braucht seine Zeit.

Namen hat Martins Generation mittlerweile schon viele umgehängt bekommen, „Generation Unentschlossen“ ist nur einer davon. Auch für Autoren und Popliteraten ist das Thema „erwachsen werden oder doch nicht“ ein Kassenschlager. (Man denke nur an „Habenichtse“ von Katharina Hacker, die dafür den deutschen Buchpreis erhielt, oder an die Bestseller von Ildiko von Kürthy.)

„Es gibt heute zwei Extreme: kindliche Erwachsene und Kinder, die nicht mehr Kind sein wollen. Das ist die neue Gegenbewegung“, sagt Peter Wippermann, Gründer des Hamburger Trendbüros. Prophetischerweise teilen sich diese beiden völlig entgegengesetzten Gruppen einen Namen: Kidults. Diese Mischung aus „kid“ (Kind) und „adult“ (Erwachsener) wird gleichermaßen auf diejenigen angewendet, die sowohl das eine als auch das andere sein wollen.

Also auch 20- bis 40-Jährige, die nicht wirklich erwachsen werden wollen oder zumindest einen Teil ihrer Kindheit bewahren möchten – und das gerne mit den passenden Produkten demonstrieren. Die comiclose Comicfigur „Hello Kitty“ zählt ebenso dazu wie die Zeichentrickfiguren Barbapapas oder die Welt der Computerspiele. Sie sind eigentlich für Kinder gemacht, werden aber gerne von Älteren gekauft– und zwar nicht, um sie zu verschenken. Allein ein kleiner Rundgang in Wien zeigt: Das Geschäft mit den Produkten aus der Kindheit läuft gut. „70 Prozent unserer Kunden sind Frauen zwischen 30 und 50. Am besten gehen die Barbapapa-Produkte“, sagt Jessica Schreckenfuchs, Verkäuferin im Shop „Bootik 54“ in der Neubaugasse. Auch die „Kitty World“ in der Wiener Stiftgasse lebt vor allem von zahlungskräftigen, erwachsenen Frauen. 1400 Produkte mit der japanischen Katze hat Inhaber Joo-Seo Shin anzubieten, vom Keksausstecher bis zum Autositzbezug.

Auch die 32-jährige Birgit nennt einige „Hello Kitty“-Produkte ihr Eigen.„Ich hab sie lange gesammelt und auch mit meiner Freundin getauscht“, sagt die zweifache Mutter, die mit Ehemann und Eigenheim eigentlich einen eher klassischen Weg eingeschlagen hat. Hoch im Kurs stehen bei ihr derzeit Barbapapas: „Die liebe ich einfach. Sie erinnern mich an meine Kindheit und sind fröhlich. Sonst ist eh immer alles so ernst“, sagt sie. Auch ihr „Lustiges Taschenbuch“-Abo werde sie niemals aufgeben, schwört sie.

Trendforscher Peter Wippermann beobachtet die Kidult-Bewegung seit Ende der 1990er Jahre. „Das ist schleichend gegangen. Es hängt damit zusammen, dass jene, die heute über 50 sind, die Jugendkultur erfunden haben. Jetzt kommen sie drauf, dass sie doch in die Jahre gekommen sind. Ihre Kinder sind hingegen schon damit aufgewachsen, die kennen keine klare Trennung zwischen Kindlichem und Erwachsenem mehr.“


Partnerschaftliche Erziehung.
Und genau das lassen viele Kinder ihre Eltern spüren: Sie akzeptieren nicht mehr, dass die Welt der Erwachsenen von der der Kinder getrennt sein könnte. Immer mehr Mütter und Väter versuchen, sich in einem Universum zurechtzufinden, in dem sich die Wissenshierarchie teilweise auf den Kopf gestellt hat. Vor allem im technologischen Bereich sind Kinder oft versierter als ihre Eltern. Dazu kommt ein neuer – partnerschaftlicher – Erziehungsstil, der Kindern wesentlich mehr Rechte (und oft auch weniger Pflichten) einräumt als noch eine Generation davor. Das endgültige Ende der Mangelgesellschaft trägt ihren physischen Teil dazu bei, dass Kinder auch körperlich immer früher erwachsener werden – und auch geschlechtsreif.

Die extremen Auswüchse dieser Entwicklung finden immer wieder den Weg in die Medien: Kinder, die mit 13 Jahren bereits zur Kosmetikerin oder ins Fitnessstudio drängen; Mädchen, die sich zur Firmung eine neue Nase wünschen; oder wie die Mama zu Botox greifen, um jede Unebenmäßigkeit aus ihren Gesichtszügen zu entfernen.

Diese verschwimmenden Generationengrenzen hüllen auch den Blick für das Phänomen „Gesamtgesellschaft“ zunehmend in Wolken. Und je weniger die Menschen bereit sind, nach allgemein gültigen Regeln zu leben, desto wichtiger wird das individuelle Wohlbefinden. „Jene, die heute 30 oder 40 Jahre alt sind, schauen viel mehr auf ihr eigenes Wohl oder jenes der Freunde und der Familie als auf das der Gesellschaft“, so Wippermann.

Der Trendforscher hat ebenfalls eine Auflösung der Generationengrenzen ausgemacht – zumindest in zwei Bereichen: In der Mode und beim individuellen Lebensstil gibt es kaum noch Unterschiede. Anders verhalte es sich etwa mit der Trennung von Arbeit und Freizeit: die sei für die jüngere Generation kaum vorhanden. Und: Die jungen Menschen können mit der schnelllebigen Zeit und der unsicheren Arbeitsmarktsituation besser umgehen. Sie kennen es nicht anders.

Ist nun diese Flexibilität und Unentschlossenheit eine Reaktion auf die Arbeitsmarktsituation? Oder geht es eher darum, sich mehrere Möglichkeiten offenzulassen, weil man wählerischer ist? Wippermann tendiert zu Ersterem. „Wenn Sie keine fixe Karriere haben, können Sie entweder sauer sein oder es idealisieren und das Beste daraus machen.“

Auch Martin macht eher den Arbeitsmarkt für seine Situation verantwortlich. Die Hoffnung, dass er eines Tages von etwas Kreativem – in seinem Fall von Musik – leben kann, lässt er sich dennoch nicht nehmen. Auch wenn er zur Sicherheit gerne einen kleinen Job für die Miete hätte. Einen Plan B hatte er auch schon (auch wenn der Plan A immer fehlte): die Flucht ins Ausland. „Ich kenne viele, die das machen, weil sie hier keine Zukunftsperspektive haben. Man geht einfach nach Berlin und macht sich mit irgendwas selbstständig, das ist dort einfacher.“


Alles wird anders.
Wobei: Jetzt wird bei ihm sowieso alles ganz anders. Seit vier Monaten ist er verlobt, genauso lange kennt er seine zukünftige Gattin auch schon. Martin meint dazu: „Bei Entscheidungen tu ich mir nur dann schwer, wenn ich viel Zeit hab.“ Seine Verlobte wohnt allerdings im hohen Norden. Im Herbst steht der Umzug nach Schweden bevor. Und dann sind Kinder geplant, und zwar mindestens drei. Eine ungewöhnliche Wendung? Nicht für Trendforscher Wippermann. „Hinter all der Flexibilität stehen romantische Werte. Man will sich die Romantik in die leistungsorientierte Welt holen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2010)

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