Ukraine: Das Scheidungsturboland

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Schnell verheiratet, schnell geschieden: In der Ukraine verspricht man sich gern ewige Treue. Diese hält dann aber sehr oft doch nicht so lange. Bei der Scheidungsrate liegt das Land nämlich ganz vorn.

Im Park vor der Kiewer Taras-Schewtschenko-Universität halten Studenten die Bänke besetzt. Vera Roschtschina kommt jeden Tag hierher, um auf den gepflasterten Wegen ihre Runden zu drehen. Mit ihrem knielangen Sommerrock, den filigranen weißen Sandalen und dem schulterlangen Haar sieht sie selbst wie eine Studentin aus.

Doch Vera hat ihr Studium hinter sich und kommt nicht zur Erholung hierher. Vera ist 24, geschieden und führt hier ihren knapp zweijährigen Sohn Artjom spazieren. Seit der Scheidung fühle sie sich „großartig“, sagt Vera und lächelt, wie sie es immer tut, herzlich und offen.

Wenn Vera sich erinnern muss, dann kommt ihr vor, dass zwischen dem Anfang der Geschichte und dem Heute eine halbe Ewigkeit liege. Dabei ist es noch nicht einmal drei Jahre her, da lernte sie den gleichaltrigen Sergej kennen. Sein Lächeln gefiel ihr, überhaupt war er ein äußerst „hübscher junger Mann“. Er schenkte Vera Blumen, führte sie aus, schmeichelte ihr. Sergej war spontan, ausgelassen. Und „nepredskazuemyi“, sagt Vera und nickt, ja, das war er auch. Unvorhersehbar.

Unvorhersehbar waren noch einige andere Dinge in der Beziehung. Nach drei Monaten „Ausgehen“ war Vera schwanger. Sergej war hocherfreut. Eine gemeinsame Zukunft, Ehe, Kinder, das hatten die beiden sowieso geplant, zwar nicht ganz so schnell, aber nun war es eben so. Die Eltern drängten zur Hochzeit, das Paar willigte ein. Man war, so fühlte es sich an, verliebt.

Das Scheidungsfest war lustiger. Es war eine Traumhochzeit mit einem „Excalibur“, einer weißen Stretchlimousine, für teures Geld gemietet, und Vera und Sergej schworen einander – wie es das Kiewer Hochzeitsskript vorsieht – auf der „Brücke der Verliebten“ ewige Treue. Fotograf und Kameramann hielten die feierlichen Momente fest, dann musste man eilig weiter – im Restaurant wartete die Gesellschaft.

Es war nicht sehr lange her, im Dezember 2010, da feierte Vera mit ihren Freundinnen neuerlich ein Fest. „Ausgelassener als die Hochzeit“ sei es gewesen. „Fröhliche Scheidung“, riefen Veras Freundinnen, und gemeinsam tanzten sie bis zum Morgengrauen.

Ljudmila Schangina, Soziologin im unabhängigen Forschungsinstitut Razumkov Centre, sucht im Statistischen Jahrbuch der Ukraine die Zahl der Ehen und Scheidungen. Sie muss lange blättern, bis sie fündig wird, ganz hinten. 318.200Eheschließungen gab es in der Ukraine 2009, also 6,9Hochzeiten auf 1000 Einwohner (im Vergleich dazu Österreich: 4,2). „Wir führen seit Jahren Umfragen über die Werthaltung der Menschen durch“, sagt Schangina. „Die Familie war bisher fast immer an erster Stelle.“ Die Ukrainer heiraten traditionell nicht nur gern, sondern auch jung. Vor einigen Jahren lag das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen bei 25, mittlerweile liegt es bei 27. Doch auch bei Scheidungen nimmt das Land den Spitzenplatz im europäischen Vergleich ein – mit 5,3Scheidungen auf 1000Einwohner (Österreich: 2,36).

Den Grund für die hohe Scheidungsrate sieht Schangina in der „Transformationskrise“. Während junge Paare mit ihrem „Ewig dein“ noch immer das gesellschaftliche Ideal erfüllen, sind die Lebensbedingungen rundherum ins Wanken geraten. „In der Ukraine geht man davon aus, dass die Eltern das Paar finanziell unterstützen. Doch die können die Aufgabe oft nicht erfüllen.“ Jede fünfte Ehe zerfällt schon wegen materieller Probleme. „Die Bezahlung der Menschen ist so gering, dass sie, obwohl sie arbeiten, ihre Familie nicht erhalten können.“

Leben bei den Eltern. Auch Vera und Sergej wurden von den Schwierigkeiten des ukrainischen Alltags eingeholt. Die Heirat bedeutete für sie nicht den ersehnten Schritt aus dem Elternhaus – genau das Gegenteil. Leistbare Wohnungen sind in Großstädten wie Kiew kaum zu bekommen, das Paar zog mit dem neugeborenen Sohn Artjom zu Veras Eltern. Dort lebten neben den Eltern und ihnen aber auch noch Bruder und Schwester. Die Jungfamilie richtete sich in einem Durchgangsraum der Vierzimmerwohnung ein. „Das war schwierig“, erinnert sich Vera.

Ein häufig genannter Grund für Scheidungen ist Alkoholismus. Für Schangina keine Facette des Nationalcharakters, wiewohl man den Ukrainern gern Trinkfestigkeit nachsagt. „So viel Alkoholismus wie heute gab es im Sozialismus nicht“, sagt sie. „Männer ertragen die Krisensituation schlechter als Frauen.“ Während Frauen sich, wie vor 1991 auch, wie selbstverständlich um Haushalt, Kinder und Einkommen kümmern, tun sich Männer mit der Anpassung schwerer. Ihr Statusverlust ist ein gefühlt größerer, als „Ernährer“ taugen sie nicht mehr. Alkohol betäubt die Selbstzweifel.

Auch Sergej fand keinen Job, saß zu Hause herum, verbot seiner Frau den Umgang mit Freunden, wurde zusehends aggressiver. Das wenige Geld, das das Paar hatte, investierte er in zwei Fernseher und ein Aquarium. „Und um seine Fische musste ich mich dann auch noch kümmern“, sagt Vera kopfschüttelnd.


Justitia hilft im Zeitlupentempo. Entscheidend für die Einreichung der Scheidung war schließlich, dass sich Sergej nicht um Sohn Artjom sorgte. Geld für das Kind hat Vera von ihrem Exmann auch noch keines erhalten. Tatsächlich, sagt Soziologin Schangina, sei die Lage so: „Wenn ein Mann sich in der Ukraine verantwortlich fühlt, zahlt er freiwillig Alimente. Wenn nicht, gibt es derzeit keinen effektiven Mechanismus, ihn dazu zu zwingen.“ Entscheidungen vor Gericht könnten sich in diesem Land nämlich überaus lange hinziehen.

(c) Die Presse / GK

Anders als in der konservativeren Westukraine haftet in den Großstädten der Zentral- und Ostukraine Geschiedenen zumindest kein sozialer Makel an. Außerdem hat die 24-Jährige seit einigen Monaten einen neuen Freund. „Er ist ganz anders als Sergej, ruhig und verantwortungsvoll.“

Diesmal will sie länger warten. Den Traum von der eigenen Familie hat Vera nicht aufgegeben. Sie möchte noch ein, zwei Kinder, wenn es die finanziellen Mittel denn erlauben. Der junge Mann bittet sie jeden Tag, es doch endlich zu tun – endlich zu heiraten. Bisher hat Vera ihn vertröstet. Dieses Mal, sagt sie, möchte sie doch ein bisschen länger zuwarten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2011)

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