Die Rückkehrer von Sofia

(c) AP (Valentina Petrova)
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Nach 1989 verließen bis zu eine Million Menschen Bulgarien. Nun wagen immer mehr das, was früheren Auswandern eine irrsinnige Idee schien: Sie kehren in die alte Heimat zurück.

Mit Schrecken erinnert sich Wanja Iwanowa heute noch an die einsamen Freitagabende, an denen sie allein zu Hause saß. Niemand rief an, und Wanja wusste nicht, bei wem sie sich hätte melden sollen. Wanja Iwanowa erinnert sich an das Unwohlsein in ihrem Job, weil in Bulgarien alles irgendwie anders war als in London. Und an die rätselhafte Schwierigkeit, mit Menschen eine gemeinsame Sprache zu finden, die doch dieselbe Sprache sprechen.

Nein, einfach war das Zurückkommen ganz und gar nicht, sagt Wanja Iwanowa und lächelt, wie sie es immer tut, versonnen und freundlich. Iwanowa sitzt in einem Café im Zentrum der bulgarischen Hauptstadt Sofia und nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee. Die zierliche 27-Jährige mit dem halblangen Haar wurde in der bulgarischen Hauptstadt Sofia geboren. Für ihr Wirtschaftsstudium übersiedelte sie im Jahr 2003 nach London. Nach dem Abschluss 2008 entschied sie sich zur Rückkehr, um im elterlichen Immobilienunternehmen einzusteigen. Es war schwieriger als gedacht.

Bevölkerung schrumpft.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989 wurde Bulgarien zum Land, das Westeuropa, die Vereinigten Staaten und Kanada mit Migranten versorgte. Die genauen Zahlen kennt allerdings niemand. Studien gehen davon aus, dass zwischen 600.000 und einer Million Menschen in den vergangenen 20 Jahren das Land verlassen haben, darunter viele Gutausgebildete.

Vor allem zu Beginn der Neunzigerjahre waren viele Forscher darunter, die nach Stellenkürzungen im Wissenschaftssektor auf der Straße standen bzw. mit ihren niedrigen Gehältern auf dem Arbeitsmarkt keine Zukunft sahen. Die Auswanderung, gepaart mit einer niedrigen Geburtenrate, hat zu einem drastischen Bevölkerungsverlust geführt, der Studien zufolge weiter anhalten wird: 1988 zählte Bulgarien knapp neun Millionen Einwohner, heute leben 7,6 Millionen Menschen in dem Land. 2030 sollen es nur noch 6,8Millionen sein.

Bulgarische Experten befürchten seit Längerem, dass durch den „Brain Drain“ („Abfluss der Gehirne“) dem Land die „klügsten Köpfe“ verloren gehen. Andere, wie etwa der österreichische Sozialwissenschaftler August Gächter vom Wiener Zentrum für Soziale Innovation, sehen in der Massenauswanderung eine nur zu logische Entwicklung – um nicht zu sagen eine Normalisierung: Erstens war im Sozialismus eine Auswanderung kaum möglich. Zweitens war mit der Wende auch der „alte“ Arbeitsmarkt zusammengebrochen. Drittens war der sozialistische Wissenschaftssektor zwar aufgebläht, die damalige Forschung in der neuen Ära aber zu wenig anwendungsorientiert und unrentabel. „Der Arbeitsmarkt der Neunziger hätte all diese Wissenschaftler gar nicht aufnehmen können“, sagt Gächter. Geschätzte elf Prozent des akademischen Personals sind zwischen 1989 und 1995 ausgewandert, vor allem in die USA und Deutschland. Es sei ein „schmerzhafter Prozess“ gewesen, sagt die Sofioter Forscherin Daniela Bobewa, die für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Migrationsprozesse beobachtet. „Aber gewissermaßen auch eine normale Restrukturierung.“

Verstärkter Bedarf.

Doch seit einiger Zeit bewegt sich etwas in der bulgarischen Migrationsstatistik: Forscher sprechen von einem Rückkehrtrend. Eine Studie der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften will gar 450.000 Rückkehrer innerhalb der vergangenen fünf Jahre gezählt haben – eine Zahl, die sehr hoch gegriffen scheint. Bobewa bestätigt zumindest die Tendenz: „Solange es hier bergauf geht, gibt es Rückkehrer.“ Die Rückkehr sei eben „von der Nachfrage abhängig“. Und diese ist gestiegen – allen voran aufgrund der stabileren Wirtschaftslage in Bulgarien.

„Es gibt auf dem Arbeitsmarkt verstärkt Bedarf an westlichem Know-how“, erklärt Andreas Breinbauer von der Fachhochschule des Berufsförderungsinstituts Wien. Viel Nachwuchskräfte versuchen nun, in Bulgarien anzuwenden, was sie im Ausland gelernt haben – oder Nischenmärkte zu beackern. Hinzu kommt die angespannte wirtschaftliche Lage in traditionellen Auswandererländern wie Griechenland, Spanien und Italien – auch sie hat zur Rückkehr beigetragen.

Hilfe zur Selbsthilfe.

Doch das Zurückkommen ist nicht unbedingt einfach. Wanja Iwanowa hatte Glück im Unglück: Sie war mit ihren Schwierigkeiten nicht allein. Gemeinsam mit fünf anderen ebenfalls nach Bulgarien zurückgekehrten Ex-Schulkollegen gründete sie die Organisation „Tuk-Tam“ – übersetzt so viel wie „Hier und dort“.

„Tuk-Tam“ sollte eine Anlaufstelle für junge Rückkehrer sein – es ist eine Art Selbsthilfeorganisation der Young Professionals. Zu den monatlichen Treffen versammeln sich etwa 100 Interessierte. Dort tauscht man sich aus, übt sich im Networking und hört sich Vorträge zu Themen wie „Rezepte für den Erfolg“ an. Zum einmal jährlich stattfindenden Forum „Karriere in Bulgarien – warum nicht?“ kommen etwa 1000 Teilnehmer: junge Menschen, die im Ausland studiert oder gearbeitet haben und ihre Zukunft in Bulgarien sehen. „Wir bieten ehrliche Informationen“, sagt Iwanowa, die im elterlichen Immobilienbusiness mittlerweile ihren Platz gefunden hat. Sie selbst hat ihre einst (zu) hohen Ansprüche mit den hiesigen Bedingungen abgeglichen: „Man kann in Bulgarien nicht erwarten, dass alles wie im Westen läuft. Dann wird man nicht glücklich.“ Ihre Zuversicht, die sie aus London habe, konnte sie behalten. „Ich bin nicht so pessimistisch wie die Leute hier.“

Zukunft im Hier und Dort.

Wie nachhaltig die Remigration sein wird, lässt sich heute schwer sagen. Für die Forscher steht fest, dass sich auch die Migrationsmuster verändert haben: „Brain Circulation“ lautet das neue Schlagwort.

„Meine Eltern betrachten meine Rückkehr als endgültig“, sagt Wanja Iwanowa dazu. Sie selbst sehe das anders: „Wenn ich wegfahre, ist das nicht endgültig – und wenn ich zurückkehre, auch nicht.“ Die 27-Jährige fühlt sich mittlerweile „tuk i tam“, „hier und dort“, gut aufgehoben. Vielleicht ist das Normalisierung auf Bulgarisch.

Heimkehr der „Gehirne“?

Laut einer Studie sind in den letzten fünf Jahren 450.000 Bulgaren in ihre Heimat zurückgekehrt. Ein neues Phänomen, hatte das südosteuropäische Land doch in den vergangenen 20 Jahren mit einer starken Abwanderung zu kämpfen.

Die Organisaton „Tuk-Tam“ („Hier und dort“, Website: www.tuk-tam.bg) ist eine Initiative junger Rückkehrer. Sie unterstützt Bulgaren, die nach Studium oder Berufstätigkeit im Ausland in ihre Heimat zurückkehren möchten. Einmal jährlich organisiert „Tuk-Tam“ in Sofia eine Messe mit Workshops und Jobangeboten. Termin: 22. Dezember 2011.

Dieser Artikel entstand im Rahmen von „eurotours 11“, einem Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Mitteln der EU. „Eurotours 11“ beleuchtete das Thema „Bildung“ in 26 EU-Ländern. „Die Presse am Sonntag“ sah sich in Bulgarien um.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2011)

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