Motto "Verzicht": Ich faste, also bin ich

Motto Verzicht faste also
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Kein Fleisch, kein Auto: Freiwilliger Verzicht ist das moralische Gütesiegel der Überflussgesellschaft. Verzichten muss man, um überhaupt Mensch sein zu können. Sagt die Theorie.

Die Raucherin Martina ist während der Fastenzeit bestenfalls nach einer Sache süchtig: Nach dem Kuli, mit dem sie jeden Tag durchstreicht, der sie dem Ende des selbst auferlegten Martyriums, dem Verzicht auf Nikotin, näherbringt. Freundin Nike verzichtet ganz auf den Alltag. Sie hat zwei Wochen in einem Hotel gebucht, das auf typgerechtes Fasten spezialisiert ist und jene begleitet, die auch auf Nahrung verzichten, um eine klarere Sicht auf ihr Leben zu bekommen. So wie Nike und Martina verzichten viele auf irgendetwas – und reden darüber. Leiser oder lauter, aber unverkennbar stolz.

Dieser Stolz läuft selten Gefahr, hochmütig zu wirken. Denn Verzicht ist ein in Mode gekommener Zeitvertreib, den die Überflussgesellschaft wohlwollend betrachtet. Aber rein als Trend lässt sich Verzicht nicht abtun: Er ist Teil der menschlichen Verfassung. „Verzicht ist eine anthropologische Strategie, sich seiner selbst bewusst zu werden. Das funktioniert durch Verzicht, das funktioniert aber auch durch Genuss“, sagt der österreichische Essayist Franz Schuh. Was Verzicht für viele Menschen attraktiv mache, sei die Freiwilligkeit. „Man muss nicht verzichten, man kann. Im Lichte dieses ,Könnens‘ wird aus der negativen Idee des Verzichts etwas Positives, Spielerisches. Das ist auch eine Variante von Freiheit“, sagt Schuh, auch wenn er glaubt, dass „die Verzichtspropaganda nur eine Scheinsouveränität“ vorgaukelt.

Viele Menschen lassen sich dennoch betören. So wird Verzicht für diejenigen, die es sich leisten können, weniger zu wollen, als sie haben, zum ultimativen Luxus.


Den Blick schärfen.
Für Verzicht als Luxus spricht unter anderem der Boom rund ums Fasten. Seit rund zehn Jahren nimmt der freiwillige Verzicht auf Nahrung stetig zu. Ulrike Borovnyak von der Gesellschaft für Gesundheitsförderung, dem größten Fastennetzwerk Österreichs, beobachtet zwei Trends. „2003 ging es vor allem darum, Fasten von seinem negativen Image zu befreien und als etwas Positives darzustellen, durch das man gewinnt“, sagt sie. Damals lag die Betonung auf dem körperlichen Wohlbefinden, längst wird das Thema heute auch von der seelisch-psychologischen Seite aufgerollt. „Abnehmen macht beim Fasten nur mehr einen kleinen Teil aus“, sagt Borovnyak. „Viele Menschen haben das Bedürfnis, etwas in ihrem Leben zu ändern, sei's die Beziehung, sei's der Job. Damit der Blick auf Problemzonen frei wird, suchen sie nach einem Anstoß, der geeigneten Zäsur.“ Diese finden sie im Verzicht auf das, was ein nicht ganz so ideales Leben am Laufen hält, etwa Essen.
Missverständnis Verzicht. Dabei biegt so mancher in die falsche Richtung ab. Die Idee des Verzichts galt in der Führungsschicht der westlichen Gesellschaft lange als absolutes „no, no“, als Inbegriff esoterischen Weicheitums. Heute nicht mehr. „Der Verzicht ist heute fast ein Statussymbol geworden“, sagt der Wirtschaftspsychologe Alfred Lackner. „Viele Manager nutzen ihn, weil man damit beweisen kann, wie leistungsstark man selbst im Verzicht ist.“ Man zieht sich in ein Kloster zurück, isst nichts, klinkt sich aus – und macht danach so weiter wie zuvor. „Das hat mit Verzicht nichts mehr zu tun“, sagt Lackner. „Echter Verzicht ist eine Geisteshaltung, bei der es um Werte wie Reinigung oder Autonomie geht.“ Der Verzicht auf Zeit hingegen ist Teil des gesellschaftlichen Wettbewerbs, mit dem man sich selbst beweist, wie unabhängig man sein kann. Sich und den anderen. Denn kompetitiver Verzicht lebt davon, dass man möglichst viel und mit möglichst vielen Menschen darüber redet.


Konsumieren, was geht. Einiges deutet allerdings darauf hin, dass die Hochblüte des Verzichts am Verwelken ist. Denn eine Idee, deren Attraktion in der Freiwilligkeit liegt, schmeckt schal, wenn sie „von oben“ verordnet wird. Und diese Verordnung liegt in der Luft. Dafür muss man kein Grieche sein – dafür reicht es, wenn die unterschwellige Botschaft von allen Seiten lautet: „Gürtel enger schnallen.“ Zahlen sind hier eher mit Vorsicht zu genießen. Dennoch: 2010 gaben noch 47 Prozent der Österreicher an, in der Fastenzeit verzichten zu wollen, zum Beispiel auf Schokolade (erhoben von Karmasin Motivforschung, publiziert im „Profil“). 2012 konnten sich nur noch 37 Prozent mit dieser Idee anfreunden (MAKAM Market Research). Dabei geht es um Süßigkeiten – Alfred Lackner zieht dennoch Parallelen zum generellen Verzicht: „Wenn die wirtschaftliche Verunsicherung groß ist, reagieren viele nicht mit der Bereitschaft zum Verzicht, sondern mit dem Gegenteil: Ich konsumiere, solange ich noch kann.“

Verzicht auf Optionen. So weit, so einleuchtend, solange sich die Debatte auf den Güterkonsum konzentriert. Aber was, wenn man tut, was ohnehin viele Fastende tun, die Entbehren als Konzept über die Nahrungsaufnahme hinaus begreifen? Dann geht es um mehr als das Sein oder Nichtsein der Schwarte auf dem Teller – dann geht es um Optionen, um die Fülle an Möglichkeiten, für die ein Leben nicht genug Platz bietet. Spätestens an diesem Punkt ist genug schwere Kost auf dem Tisch, um einen Philosophen um Rat zu fragen. Interesse an einem abgeschlankten Lebenskonzept, passt das überhaupt zum Menschen? Oder wollen wir, der Schlank- und Schönheit wegen, ohnedies nur beim Essen fasten? Nein, sagt Andreas Urs Sommer, der an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Philosophie lehrt und ein Buch über „Die Kunst der Seelenruhe“ geschrieben hat, in dem es auch um eine reduzierte Lebensphilosophie geht. Sommer sieht Verzicht als menschliche Konstante: „Der Mensch ist per se ein verzichtendes Wesen, weil er durch Fokussierung überhaupt erst seine Persönlichkeit herausbilden kann – Sie müssen von 999 Optionen eine auswählen, um überhaupt jemand sein zu können.“

Das klingt plausibel, macht das Auswählen an sich aber nicht leichter. Stimmt, sagt Sommer. Gerade im Berufsleben führt Verzicht auf der Karriereleiter eher bergab als hinauf. Vor allem für die jüngere Generation, deren Mitglieder sich oft nur dann zur Jobzusage zuprosten dürfen, wenn sie einen Cocktail aus Auslandserfahrungen, Praktika und Ausbildungen in der Hand halten. „Es wird von Personalchefs in Lebensläufen erwartet, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit gemacht zu haben“, so Sommer, „die Versuchung, an allen Möglichkeiten zu nippen, ist dadurch groß.“

Kulturpessimismus ist deshalb aber noch nicht angebracht. Zwei Entwicklungen machen Mut: Einerseits hat sich der Mensch, zumindest im wohlhabenden Teil der Welt, im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Freiheiten geschaffen. Das beginnt beim fließenden Wasser aus der Leitung und erreicht einen ersten Höhepunkt beim Smartphone, das Telefon, Kalender, Minicomputer, Musikgerät und Spielzeug in einem bietet. Wenn nicht der Wunsch, das Ding ordentlich gegen die Wand zu schlagen, das Gemüt in die andere Richtung ausschlagen lässt. Doch gerade bei der Überforderung entwickelt ein Charakteristikum des Smartphone-Users seine Schlagkraft: Denn eines hat er gelernt, der i-Mensch – aus dem Angebot der eierlegenden Wollmilchsau in seiner Tasche auszuwählen. „Einerseits leben wir in der permanenten Überforderung durch Vielfalt, andererseits haben wir einen Habitus des Verzichtenkönnens entwickelt“, so Andreas Urs Sommer. Allein der Besuch einer Website ist eine Übung in Verzicht. Mit einem Klick sterben tausend andere Optionen. Kurzfristig zumindest.
Gekonnter Verzicht erfordert allerdings mehr als schlaues Klicken – das Bewusstsein der eigenen Wahlfreiheit, das auch Bildung erst ermöglicht.

Aber muss man die Fähigkeit zum Verzicht auch an ökonomische Bedingungen anknüpfen – ist Verzicht nur im Überfluss interessant? Philosoph Sommer ist gegen diese These. „Gerade die Verzichtsbewegungen der Spätantike haben auch während Krisenzeiten stattgefunden, um durch die Konzentration auf den Verzicht die Krise zu neutralisieren, sie weniger wahrnehmen zu müssen“, so Sommer, der die Anhänger des griechischen Philosophen Epikur anführt, die Glück im Verzicht auf Wünsche sahen. „Auch das Christentum war als Verzichtsbewegung erfolgreich; Verzicht wurde Gottgefälligkeit“, so Sommer. Aber auch in der Gegenwart könne eine Krise „zum Verzicht einladen“: Dann, wenn eine Gesellschaft in ihren Prioritäten unsicher geworden ist. Wenn Bürger etwa Finanzmärkte infrage stellen, über die früher nur jene sprachen, die dort direkt investierten.

Schatten des Verzichts.
Aber auch wenn das Konzept „Verzicht“ die Krise(n) überlebt, so hat es Schattenseiten: die Angst, auf das Falsche verzichtet zu haben. Das gilt nicht fürs Essen – wer nachts aufwacht, weil er den einen Braten hat ziehen lassen, hat andere Probleme. Die Sache mit der Angst gilt für den Verzicht auf Optionen. Weil Menschen, die sich ihrer Möglichkeiten bewusst sind, sich leichter ängstliche Fragen stellen (Habe ich das richtige Lebenskonzept gewählt?) als ihre Ahnen, denen die Welt da draußen medial nicht so einfach zugänglich war. Insofern heißt Verzichten heute, mit Risiko leben zu können. Andreas Urs Sommer schließt mit dem Thema Endlichkeit: „Als Mensch sind Sie zur Endlichkeit verurteilt, also müssen Sie sich irgendwann als bestimmte Persönlichkeit konstituieren.“ Fast erleichternd.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2012)

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