»Vielleicht der größte soziale Wandel der letzten 60 Jahre«

Der amerikanische Soziologe Eric Klinenberg sorgt mit seinem Buch »Going Solo«derzeit für Gesprächsstoff. Denn er ist der Meinung, dass immer mehr Menschen nicht deshalb allein leben, weil sie müssen, sondern weil sie wollen.

Der Trend zum Alleinleben verstärkt sich in der westlichen Welt dramatisch. Was sind die Hauptgründe?

Eric Klinenberg: Vor allem der Wohlstand. Man braucht wirtschaftliche Sicherheit, um allein einen Haushalt zu bestreiten. Viele Menschen leben heute allein, weil sie es sich leisten können. Das ist historisch einzigartig. Aber es gibt auch andere Gründe. Einige Länder sind zwar reich, aber es leben nur sehr wenige Leute allein, zum Beispiel in Saudiarabien. Das führt uns zu einem zweiten wichtigen Grund, dem sozialen Aufstieg der Frauen. Als Frauen anfingen, zu arbeiten, bekamen sie in vieler Hinsicht die Kontrolle über ihr Leben. Heute können sich Frauen scheiden lassen, wenn die Ehe nicht funktioniert – und zwar ohne die Sorge, dass sie den Rest ihres Lebens in Armut verbringen werden oder wieder bei ihren Eltern einziehen müssen. Genau das haben sie aber vor 60 Jahren gemacht. Dazu kommt die Revolution in der Kommunikation: Telefon, Fernsehen, Internet, Facebook, Skype. Man kann allein daheim sein, gleichzeitig aber intensiv am sozialen Leben teilnehmen.

Also ist das ein urbanes Phänomen?

Die wachsende Bedeutung der Städte ist ein wichtiger Faktor. Vor 60 Jahren war der typische Single in den USA ein männlicher Wanderarbeiter im ländlichen Raum. Heute leben die meisten Singles in der Stadt. In Manhattan, wo ich wohne, ist einer von zwei Haushalten ein Ein-Personen-Haushalt. Singles ziehen in Stadtteile, wo viele andere Singles wohnen. Dort können sie allein leben und gleichzeitig zusammen sein. Allein leben kann eine sehr soziale Erfahrung sein.

Der allgemeine Eindruck ist, dass Leute deshalb allein leben, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Sagen Sie, dass heutzutage viele gar keinen Partner mehr suchen?

Nein, das ist es nicht. Die meisten Menschen wollen einen Partner. Was sich verändert hat, ist, dass wir nicht mehr auf Gedeih und Verderb mit den falschen Menschen zusammenleben möchten. Wir wollen keine Kompromisse machen, nur um mit jemandem zusammen zu sein. Wichtig ist auch, dass die meisten Leute, die allein leben, davor mit jemandem zusammengewohnt haben und oft sogar verheiratet waren. Sie können bezeugen, dass nichts einsamer macht, als mit dem falschen Menschen zusammenzuleben.

Das Wort „Single“ hat aber doch noch immer einen negativen Beiklang.

Ja, hat es. Es klingt nach Menschen, die mit ihrem Leben unzufrieden oder unglücklich sind. Also brauchen wir eindeutig ein neues Vokabular.

Viele Menschen finden den Gedanken, Single zu sein, auch faktisch bedrohlich. Warum?

Weil wir in dem Glauben aufgewachsen sind, dass die beste Art zu leben die Familie ist. In der Geschichte der Menschheit haben noch nie so viele Menschen allein gelebt wie heute. Das verängstigt uns. Wir stehen hier vor einem radikalen sozialen Wandel, vielleicht dem größten der letzten 60 Jahre. Wir sollten aber nicht nur die Risken sehen, sondern auch die Möglichkeiten, die damit geschaffen werden. Wir konzentrieren uns heute vor allem auf die Gefahren dieser Entwicklung.

Was ist die Hauptattraktion am Alleinleben? Freiheit? Wahlmöglichkeit? Flexibilität?

Das alles. Aber es gibt Menschen auch die Kontrolle über ihr Leben: machen zu können, was sie wollen, wann sie es wollen. Es erlaubt Menschen, soziale Kontakte zu ihren eigenen Bedingungen zu pflegen. Interessant ist, dass Singles in den USA mehr Zeit mit Freunden und Nachbarn verbringen als Verheiratete. Sie gehen mehr aus, sie engagieren sich aber auch mehr in freiwilligen Organisationen.

Junge urbane Menschen, die an ihrer Karriere arbeiten, schätzen auch die Flexibilität. Sie können arbeiten, so lange und so intensiv sie wollen. Übertragen wir hier die Prinzipien der freien Marktwirtschaft auf die soziale Ebene?

Es ist zwar verführerisch, das anzunehmen, aber nein, hier geht es um fundamentale Werte der modernen Gesellschaft. Einige Länder mit den höchsten Quoten allein lebender Menschen sind die am stärksten sozialdemokratisch geprägten. Zum Beispiel Finnland, Dänemark oder Norwegen. Dort gibt es die progressivste Sozialpolitik, also genau das Gegenteil der freien Marktwirtschaft. Die Investition in das Gemeinwohl erlaubt Menschen, so zu leben, wie sie wollen. Wenn man den Sozialstaat beschneidet und die soziale Unterstützung kappt, wird sich auch die Zahl der allein lebenden Menschen verringern.

Sie nennen in Ihrem Buch den „Kult des Individuums“ als Basis für diese neue Lebenseinstellung. Was meinen Sie damit?

Moderne Gesellschaften schätzen die individuelle Freiheit, zu tun was man will, überaus hoch ein. Wir entscheiden, wen wir heiraten wollen, nicht mehr unsere Familie. Wir wählen unsere Religion, wenn überhaupt eine. Wir wählen unseren Beruf. Und dazu gehört eben auch, dass wir uns gegen das Zusammenleben mit jemandem entscheiden können, der uns einsam und unglücklich macht. War man früher unglücklich verheiratet, musste man sich rechtfertigen, wenn man die Scheidung wollte. Ist man heute unglücklich verheiratet, muss man sich rechtfertigen, wenn man die Scheidung nicht will.

Das sind die Prinzipien, mit denen die Baby-Boomer-Generation aufgewachsen ist. Heute wird noch mehr Bedeutung auf die Individualität in der Kindererziehung gelegt. Wird sich dieser Trend also weiter verstärken?

Kinder hatten noch nie so viel Raum für ihre Individualität wie heute. Auch wenn Familien mehrere Kinder haben, planen sie viel stärker für die Bedürfnisse und Interessen jedes einzelnen Kindes. Geschwister betreiben nicht mehr denselben Sport oder spielen dieselben Instrumente. Wer Geld hat, verwendet dieses Geld, um die Kinder zu individualisieren. Das ist total neu.

Was sind die gesellschaftlichen Konsequenzen des Alleinlebens?

Das wissen wir noch nicht. Es ist ein soziales Experiment, das die Basis unseres Lebens verändert. Wir können es aber auch positiv betrachten, dass junge Leute diese Erfahrung machen, denn später im Leben werden sie wahrscheinlich irgendwann einmal allein leben. Und werden besser darauf vorbereitet sein. Leute, die heute alt und allein sind, hatten diese Erfahrung nie und es kann sehr schwer für sie sein. Viele Menschen sagen, dass sie einmal allein leben wollen, um sich selbst zu beweisen, dass sie es können.

Es wird aber doch unabsehbare strukturelle Konsequenzen haben, etwa auf dem Wohnsektor oder für die Altenpflege.

Diese Änderungen sind bereits voll im Gange. Wir hatten nur noch keinen Namen dafür. Was mir Sorgen macht, ist die Minderheit, die wirklich sozial isoliert und einsam wird. Aber allein leben, allein sein und isoliert sein sind drei verschiedene Dinge.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2012)

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