Der schwule Imam

Imam
Imam(C) Fabry
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Jeden Freitag fährt Imam Daayiee Abdullah eine gute Stunde mit dem Autobus quer durch Washington zum Freitagsgebet.

Jeden Freitag fährt Imam Daayiee Abdullah eine gute Stunde mit dem Autobus quer durch Washington zum Freitagsgebet. Seine Moschee hat weder Minarett noch Kuppel oder Brunnen für die rituellen Waschungen. Ein Zimmer in einem Haus der Quäker dient als improvisiertes Gotteshaus. Abdullah, ein 59-jähriger gebürtiger Detroiter, der vor seinem Glaubensübertritt Sid Thompson geheißen hat, klebt ein zerknittertes Papierschild an die Tür („Light of Reform Mosque“), rollt seine Gebetsteppiche aus, und dann wartet er. Manchmal komme niemand, um mit ihm zu beten, erzählte er neulich der „Washington Post“. Als sich drei Wochen hintereinander kein Mensch zeigte, habe er kurz die Panik bekommen: Was, wenn das alles hier keinen Sinn hat? Doch in der vierten Woche erschien ein Gläubiger, und gemeinsam beteten sie. Da wusste Daayiee Abdullah, dass es sinnvoll ist, Seelsorge für homosexuelle Moslems zu betreiben.

Als einziger offen schwuler Imam an der Ostküste hat Daayiee viel zu tun. Kein anderer moslemischer Seelsorger traut zum Beispiel gleichgeschlechtliche Paare. Er tut das mit Freude, und er spendet damit seinen Gläubigen viel Glück. „Er hat einer Menge Leute die Augen für die Möglichkeit geöffnet, Moslem und gleichzeitig offen schwul zu sein“, sagte der Jurist J. C. zur „Washington Post“. J. C. ist Quäker, sein Ehemann M. Q. Moslem und Grafikdesigner. Ihre vollen Namen wollten sie nicht in der Zeitung lesen. Die Gäste der Hochzeitsfeier wurden darum gebeten, keine Fotos und Filme auf Facebook oder anderswo im Internet zu veröffentlichen. Den Verwandten von M. Q. in seinem nahöstlichen Herkunftsland drohten ansonsten Gewalt und möglicherweise strafrechtliche Verfolgung.

„Unsere Moschee ist halt anders“, erklärt Imam Daayiee. „Ich habe eine etwas andere Vorstellung vom Islam, und es kann eine Weile dauern, bis die Welt ihren Rückstand aufholt.“ Er gebe einer Menge Leute Hoffnung, sagt der Bräutigam M. Q. Das ist wohl der wesentliche Sinn jedes Gottesglaubens.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2013)

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