Leute, die sagen, dass man früher gut ausgesehen hat

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Selbst in Kreisen, wo es nicht üblich ist, stundenlang Familienfotos mit „aah“, „ooh“ oder „jaisternichtsüß“ zu quittieren, taucht gelegentlich ein altes Foto auf.

Selbst Menschen, die nicht dazu neigen, „aah“, „ooh“ oder „jaisternichtsüß“ zu sagen, umhalbkreisen dann plötzlich den Bildschirm wie die Heiligen Drei Könige die Weihnachtskrippe. Und lassen ihre Augen glänzen, als würden sie zum ersten Mal ein Neugeborenes sehen– gerade, dass sie dabei nicht „abububu“ rufen. „Ooh, damals hast du ja noch unglaublich viele Haare gehabt“, ruft dann die eine. „Aah, du hast damals so glücklich dreingeschaut“, lustschreit die andere. Schließlich ruft die Dritte im Halbkreis: „Jaisternichtsüß! Du hast früher ja richtig gut ausgeschaut!“ Ja, früher. Vielen Dank.

In Momenten wie diesen, stellt man fest, tun sich unüberbrückbare Differenzen zur Realität auf. Man schwankt zwischen der Freude, dass man vor 15 Jahren wohl einen heißen Flirt wert gewesen wäre, und der Erkenntnis, dass man sich von der Erinnerung an damals letztlich nichts kaufen kann. „Liebes Kind, du hast die ersten grauen Haare“, würde Heinz Conrads da intonieren, aber damit anzufangen, würde dem Halbkreis wohl auch wieder nur ein mitleidiges Lächeln und eine demütigende Meldung entlocken. Daher schweigt man lieber und denkt darüber nach, ob man noch etwas mehr vom jugendlichen Erscheinungsbild in die Gegenwart hätte retten können, hätte man in den letzten Jahren auf eine ausgeglichenere Work-Work-Balance geachtet.

Legt jemand Fotos des eigenen Nachwuchses vor, ist die Gefahr übrigens nicht geringer, mit einer Meldung für Verstimmung zu sorgen. „Der schaut dir ja unglaublich ähnlich“, zum Beispiel, kann ziemlich in die Hose gehen – wenn das Kind gerade verweint und zerknautscht in die Linse stiert. In Fällen wie diesen erweist es sich als praktikabel, einfach lieber nichts zu sagen, was auch nur annähernd eine semantische Dimension haben könnte. Im Zweifelsfall also doch einfach „aah“, „ooh“ oder „jaisternichtsüß“.

E-Mails an:erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2014)

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