Von Frühblühern und Spätblühern

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Nur wer den Winter liebt, kann den Sommer begrüßen, wenn er noch gar nicht da ist.

Der Mensch sei lernfähig, sagt man. Mindestens genauso gut beherrscht er jedoch die Kunst des Verdrängens: wissen also, aber nicht wahrhaben wollen.

Wie jedes Jahr sind meine Winterjacken, Strickwesten und den Temperaturen angemessenes Schuhwerk bereits nach den ersten wärmenden Sonnenstrahlen in den obersten Fächern des Kastens verschwunden, und zwar für sehr lange Zeit (man kommt nur mit der Leiter dazu, und das ist riskant); darauf hoffend, der Frühling möge übergangslos in einen langen Sommer übergehen. Weil das wieder einmal nicht der Fall ist, stehe ich nun Tag für Tag ratlos vor einem bunten Potpourri aus ärmellosen Shirts, luftigen Sommerkleidern und Sandalen und brauche für die Auswahl doppelt so lang, nur, um nachher doch zu frieren. Wenigstens die Fahrt mit der U-Bahn bestätigt mich in der Vorahnung, nicht allein zu sein: Wer zwischen Schottenring und Landstraße keinen Husten- oder Niesanfall hat, gehört schon zu den Außenseitern; für das Großraumbüro lässt sich Ähnliches behaupten. Schnupfentechnisch ist die Novemberregenzeit gegen den vermeintlichen Frühling ein Klacks, doch nicht einmal das ist ein schlagendes Argument für den lernunwilligen Geist. Wider besseres Wissen kehren wir abends nicht in die lauschige Wirtsstube ein, sondern – es ist ja schließlich April! – machen es uns draußen bei ein paar Grad über null in dicke Wolldecken gekuschelt gemütlich. Weil nämlich nur jemand, der den Winter liebt, den Sommer begrüßen kann, wenn er noch gar nicht da ist – und was könnte schöner sein, als die schwachen Vorboten der warmen Jahreszeit in der noch kühlen Stadtluft als Erster zu riechen?

Deshalb wird nächstes Jahr nichts anders sein; Husten inklusive. Nur eines muss ich mir endlich merken: Bevor die Eisheiligen nicht vorbei sind, sollten die Winterpullis in greifbarer Nähe bleiben.

E-Mails an:anna.gabriel@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2014)

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