Einzelhandelsspielraum

Frische Milch wird in ein Glas geleert
Frische Milch wird in ein Glas geleert(c) Erwin Wodicka - BilderBox.com
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Wer hätte das gedacht? Da musste ich eigens nach Washington ziehen, um endlich wieder Milch in gläsernen Pfandflaschen kaufen zu können.

Wer hätte das gedacht? Da musste ich eigens nach Washington ziehen, um endlich wieder Milch in gläsernen Pfandflaschen kaufen zu können. Vor knapp einem Jahr hat das Lebensmittelgeschäft „Each Peach“ drei Häuserecken von meiner Wohnung den Betrieb aufgenommen, und das hat wesentlich zur Hebung meiner Lebensqualität beigetragen. Natürlich lasse ich die Finger von kleinen Gläschen voller Pinienkerne um elf Dollar; die Toleranz für Apothekerpreise hat ihre Grenzen. Doch ansonst findet man hier fast alles, was die umliegenden Supermärkte dem hungrigen Zugereisten aus Europa vorenthalten (frische Leberpastete zum Beispiel). Das Personal ist freundlich und sachverständig, neben Gemüse und Obst aus biologischer Landwirtschaft findet man frischen Aufschnitt und feine Käsesorten. Und, wie erwähnt, die Milch aus dem Pfandglas.

Von modernen Greißlereien wie dieser könnte sich der Einzelhandel, der in den USA genauso laut stöhnt wie in Österreich, einiges abschauen. Besonders laut ist zum Beispiel das Gejammer der Buchverkäufer. Klar: Wir alle sind oft zu faul, um unsere vier Buchstaben von der Couch zu erheben und ins nächste Buchgeschäft zu wandern. Stattdessen fördern wir aus Bequemlichkeit lieber die Ausbeutung von Autoren und Verlegern auf Amazon. Und trotzdem gibt es beiderseits des Atlantiks einfallsreiche und tüchtige Buchhändler, die nicht in den zivilisatorischen Schwanengesang einstimmen. In Washington seien vor allem die beiden Institutionen „Kramer Books“ und „Politics & Prose“ hervorgehoben. Was machen die richtig, dass es sie nach Jahrzehnten noch immer gibt? Sie haben eine gute Auswahl, aber – anders als die kriselnden Handelsketten – nicht alles und jeden Schrott. Sie binden treue Kunden mit Bonusprogrammen. Ihre Verkäufer sind begeisterte Leser, die nicht bloß gebundenes Papier verramschen wollen. Sie veranstalten Lesezirkel, Exkursionen an literarisch bedeutsame Orte und öffentliche Lesungen.

Ist das so schwer? Wohl kaum. Wer den Kunden schätzt, hat Zukunft – trotz Amazon und Billigdiskont.

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2014)

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