Was heißt Urbanität? Vom Weingeist in der Wassergasse

(C) Freitag
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Warum eine Drogerie in Wien Landstraße mehr über Urbanität weiß als eine Louis-Vuitton-Filiale in einer x-beliebigen Fußgängerzone.

Das urbane Unglück fängt immer unten an. Es sind die Erdgeschoßzonen, die wie nichts sonst den öffentlichen Straßenraum bestimmen, und wo den Passanten nur mehr verschlossene Rollbalken, leere Auslagen und – als neue Nutznießer des kleinhändlerischen Niedergangs – Garagentore durch die Stadt begleiten, da wird sich statt Lebensfreude alsbald Schwermut einstellen. Ohne Zahl sind die Quartiere, die sich auf solche Weise von lokal pulsierenden Zentren zu Friedhöfen des Städtischen entwickelt haben, zahlreich auch die Versuche, die Brachen mit neuen Zwecken zu begrünen. Doch weder Künstlerateliers noch Zahnarztpraxen können jene Orte des informellen Austauschs sein, die all die kleinen Greißler, Zuckerlgeschäfte, Hartwarenhändler einst gewesen sind. Und das, was an einschlägigen Restbeständen doch noch überdauert hat, ist nur allzu oft kaum mehr denn Ausgedinge für allzu früh in die Geschäftsjahre Gekommene, die zwischen vergilbtem Einwickelpapier und verstaubtem Warenbestand jene wenigen Jahre absitzen, die sie vom Pensionsantritt trennen.

In der Wassergasse 13 ist alles anders. Seit Jahren radle ich dort an einem Geschäftslokal vorbei, das „Drogerie ,Eveline‘“ überschrieben ist, und in ebenjenem Maße, in dem der Schriftzug den Zauber von Jahrzehnten atmet, ruft er das Verschwinden einer ganzen Branche in Erinnerung. Die Drogerie ums Eck – vorbei und vergangen? Keine Spur davon, als ich kürzlich – bangen Herzens, zugegeben – erstmals die Schwelle überschritt. Nichts von Geschäftesterben-Lamento, eine vergnügte Mittzwanzigerin hinter der Budel, „Drogistin aus Berufung“, wie sie sagt, die mir meinen Weingeist aushändigt, alsbald auch die Seniorchefin, die mir so unvergrämt wie engagiert die Vorzüge von Stutenmilchprodukten nahezubringen sucht. Sicher, vibrierende Einkaufsmeile war die Wassergasse nie und wird sie auch nie werden. Aber vielleicht weiß die „Drogerie ,Eveline‘“ mehr darüber, was Urbanität bedeutet, als die neueste Louis-Vuitton-Filiale einer x-beliebigen Fußgängerzone.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2014)

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