Vom Ballett der Güterwagen: Über Kunst und Peripherie

(c) Wolfgang Freitag
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Zentral? Das sollte doch irgendetwas mit Zentrum zu tun haben.

Meint auch der Duden: Zentral bedeute „in der Mitte; im Mittelpunkt befindlich, von ihm ausgehend“, behauptet er in seiner aktuellen Auflage und wird auch davor die zentrale Sache nicht anders gesehen haben. Was aber, wenn ein Zentrum nicht im Zentrum liegt? Viele Wiener führt in diesen Tagen der Weg weit aus der Mitte der Stadt hinaus, um zu etwas zu gelangen, was seit je „zentral“ genannt wird: zum Zentralfriedhof nämlich, dessen ziemlich dezentrale Lage zu Zeiten seiner Etablierung, Mitte der 1870er, tiefe Sorgen machte. Da war von der „großen Communal-Wüste, die man prahlerisch Centralfriedhof nennt“ die veröffentlichte Rede, und die lange Anreisezeit samt den hohen damit verbundenen Kosten blieben jahrelang Stadtgespräch.

Mittlerweile ist die Stadt dem vormals allzu fernen Leichenacker ziemlich an den Totenleib gerückt, und gleich nebenan hat sich ein zweites dezentrales Zentrum etabliert: Wiens Zentralverschiebebahnhof nämlich leistet da seit den 1980ern lautstark Verschubdienste. Und dass die Ruhe der unmittelbaren Nachbarschaft nicht allzu leicht zu stören ist, kommt den Bundesbahn-Verschiebern durchaus gelegen: Das rhythmische Klackern der Retarder, wenn wieder und wieder Güterwagen den Abrollhügel hinuntergleiten, um zu neuen Güterzügen sortiert zu werden, könnte so gut wie alle anderen, nur keine Toten wecken.

Viel ist heutzutag von der polyzentrischen Stadt die Rede – und dass Wien eine solche werden muss: mit nicht nur einem, nein, mit vielen Mittelpunkten. Da ist einiges dran. Dass sich regelmäßig gerade die Granden des hiesigen Kunst- und Kulturadels zieren, wenn eine Ansiedlung jenseits von Wiens Innerstem zur Debatte steht, zeugt da nicht eben von Weitblick. Macht nichts: Wer sich an der Peripherie der Kunst befleißt, kann sich schon jetzt immerhin der großen, ernsten Schönheit des Zentralfriedhofs erfreuen – und des anmutigen Balletts der Güterwagen auf den 48 Gleisen dahinter.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2014)

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