Es war einmal in Amerika

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Der amerikanische Mann kleidet sich, 150 Jahre nachdem der englische Adel die Welt gelehrt hat, wie ein Herrenanzug auszusehen hat, also noch immer wie ein Kommissar des Drogendezernats von West Baltimore.

An stillen Abenden pflüge ich mich derzeit durch die vierte Staffel von „The Wire“, dieses großen TV-Romans über Armut, Drogen, Korruption und Politik in Baltimore, mit dem der frühere Polizeireporter David Simon vor einem Jahrzehnt dem Unterhaltungsfernsehen neue politische Bedeutung verliehen hat.

Haben Sie genau gelesen? Ein Jahrzehnt ist das schon her! Was in zehn Jahren alles passiert! Heben Sie bitte kurz den Blick von den Seiten dieser Zeitung und schauen Sie auf die Straße: Autos sehen heute anders aus, und wenn jetzt jemand bei der Tür hereinkäme, der sich wie im Jahr 2004 eingekleidet hat, ergriffe Sie sofort der Verdacht, dass die Zeit aus den Fugen geraten ist.

Nicht so in den USA, genauer in Washington. Die Menschen auf den Straßen hier sind heute so schlecht angezogen wie vor zehn Jahren. Ich meine das nicht abwertend und möchte auch festhalten, dass es nicht viel kostet, sich anständig anzuziehen, wenn man aus dem Haus geht. Dunkler Anzug, weißes Hemd, schwarze Schuhe, Krawatte ohne Tiermuster: so etwas kann sich jeder leisten, der in einem OECD-Mitgliedsland einer Büroarbeit nachgeht. Der amerikanische Mann jedoch trägt heute noch immer gerne klobige Kindersärge mit dicken Gummisohlen an seinen Füßen, grelle Krawatten, Anzüge, bei denen im Schnitt das eingespart wurde, was in die Polsterung der Schultern investiert wurde, und kombiniert das mit einer dicken Protzuhr, die tragen zu können die hier sehr beliebte tägliche Zunahme eiweißhaltiger Nahrungsergänzungsmittel rechtfertigt. Der amerikanische Mann kleidet sich, 150 Jahre nachdem der englische Adel die Welt gelehrt hat, wie ein Herrenanzug auszusehen hat, also noch immer wie ein Kommissar des Drogendezernats von West Baltimore.

Ähnlich verlebt sieht es im Straßenverkehr aus. Washingtons Taxis sind aus allen Lagern des Chassis quietschende Rostschüsseln. Wer nicht von der florierenden Politikberaterwelt profitiert, fährt Nissan, Honda oder Toyota – mit Rostflecken, die schon damals einen Besuch beim Autospengler erfordert hätten, als George W. Bush ins Weiße Haus einzog.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2014)

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