Viele Monate später sind nur noch ein paar Seiten übrig

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Wenn man mehr Bücher hat als Zeit, sie zu lesen, muss man eine strenge Auswahl treffen.

Streng sein und gern Bücher lesen steht allerdings in einem Widerspruch, denn es gibt Romane, für die man großzügig sein muss und geduldig, um belohnt zu werden. Und wenn man nicht ab und zu danebengreifen kann, geht auch die Lust verloren, Neues zu probieren. Trotzdem muss man sich beschränken, will man nicht noch mehr Bücher aufeinanderstapeln, die einen irgendwie traurig unter dem Zellophan heraus anschauen, das niemals zerrissen werden wird.

Ist es besser, mehrere schmale Bücher zu lesen als ein monumentales, wenn man wenig Zeit hat? Hat es etwa überhaupt Sinn, Bücher mit mindestens 1000 Seiten zu beginnen? Ja, denkt man sich in einem Anfall von Übermut und beginnt mit dem Roman „Der Distelfink“ von Donna Tartt. Viele, viele Monate später sind nur noch ein paar Seiten übrig, und die müssen jetzt noch ein bisschen warten, weil der Abschied so schwerfällt. Immerhin war der Wälzer ganz schön lang an meiner Seite. Ich habe auch den Schluss schon gelesen, wie immer. Die letzte Seite zuerst zu lesen, das ist etwas, was man nicht nicht machen kann, wenn man diese Neigung hat.

Es passiert ähnlich automatisch wie in einem Raum die grünen Exit-Schilder wahrzunehmen, auch wenn man diese noch nie bewusst gesucht hat. Oder zu wissen, wie man die Schwimmweste aufzublasen hat, ohne den Flugbegleitern jemals bei den Sicherheitshinweisen zugehört zu haben. Falls ich einmal über dem Meer abstürze, bin ich also dafür gewappnet.

Die letzten Seiten vor der letzten Seite müssen hingegen mit Bedacht eingeteilt werden, man könnte sie in einem erledigen oder im Adventkalenderrhythmus, wobei das 24er-Türchen ja schon offen ist. Aber, so viel sei verraten, auch wenn man den Schluss schon kennt, kann man sich immer noch auf den letzten Metern überraschen lassen.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2014)

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