Was heißt da „schön“? Von Abriss-Wut und Abreiß-Weh

(c) Freitag
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Das Burgtheater: eine Gruft. Die Secession: ein „Tempel für Laubfrösche“. Die Staatsoper: ein architektonischer Skandal. Also weg damit?

Wie viel in so einem unscheinbaren E doch liegen kann. Da ist einerseits der „Wiener Abreißkalender“, der uns Jahr für Jahr die hiesigen Altbauverluste vor Augen führt. Und andererseits, kürzlich und erstmals vorgestellt, der „Abriss-Atlas Berlin“, der versammeln will, was den Berlinern doch möglichst rasch vom Hals zu schaffen sei. Motto: Das kann weg. Hier Abreißängste, dort Abrisslust, hier sehnsuchtsvoller Blick zurück, dort hoffnungsfroher Blick nach vorn, hier Leiden, dort Leidenschaft: Da ließe sich schon eine kleine Philosophie der (vermeintlichen?, tatsächlichen?) Mentalitätsdifferenzen an Donau und Spree entwickeln.

Mich allerdings beschäftigt vielmehr, was der „Abriss-Atlas Berlin“ so gut wie unvermeidlich nach sich zog: dass man sich die Grundidee anderweitig medial aneignen würde. Prompt rief „Spiegel Online“ seine Leserschaft zur fröhlichen Abriss-Nominierung auf, und seit vergangener Woche ist ein ausgewähltes Worst of Germany auf www.spiegel.de nachzulesen. Was niemanden wundern wird: Der weit überwiegenden Mehrheit der Gebäude, denen deutsche Zeitgenossen die Abrissbirne an die Mauern wünschen, eignet ihrerseits Zeitgenossenschaft. Die angefügten Begründungen wiederum kommen in keinem Fall über diffuse Hässlichkeitszuweisungen (scheußlich, grausam etc.) hinaus.

Freilich, gerade was wir als schön empfinden, ist weder in Stein gemeißelt noch in Ziegel gebrannt. Und was uns heute hässlich gilt, ist vielleicht morgen schon wohlgelitten. Nehmen wir nur die mittlerweile ästhetisch kanonisierte Ringstraßenära. Das Urteil von Zeitgenossen? Neues Burgtheater: „eine prunkhafte Gruft“. Secession: ein „Tempel für Laubfrösche“. Von den wüsten Polemiken gegen das Hofoperngebäude gar nicht zu reden, die den einen Architekten in den Selbstmord, den anderen in einen frühen Krankheitstod trieben. Ja, auch die Schönheit ist eine Tochter der Zeit. Und der Weg von der Abriss-Atlas-Wut zum Abreißkalender-Weh ist womöglich kürzer als gedacht.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2015)

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