Warum ich mich vor meinen eigenen Büchern schäme

(c) Clemens Fabry
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Seit geraumer Zeit schon schaffe ich es nicht, an meinem Bücherregal vorbeizugehen, ohne dass mich ein mulmiges Gefühl überkommt

Es ist, als ob die Buchrücken Augen hätten und mich mit missbilligenden Blicken verfolgen würden. Nachdem das Regal gleich neben dem Klo steht, beeinträchtigt die Situation meine Lebensqualität zusehends. De facto bleiben mir auf lange Sicht nur zwei Optionen offen: entweder chronische Verstopfung oder schonungslose Offenheit. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich für Letzteres entschieden.

Das Problem sind nicht so sehr die Bücher selbst, sondern mein schlechtes Gewissen ihnen gegenüber. Ganz genau: Ich geniere mich gegenüber meiner Bibliothek. Ich empfinde diese Scham, weil es mir nicht und nicht gelingen will, die Bücher so schnell und effizient zu lesen, wie ich glaube, es tun zu müssen. Und es kommen immer mehr Bände nach, einer interessanter als der andere: Geschichte der Strategie, der Niedergang der amerikanischen Gesellschaft, Deutschland im Wandel der Zeit, eine Abhandlung über die Struktur von Erzählungen sowie ein Hintergrundbericht aus der japanischen Unterwelt – und das sind nur einige der Neuzugänge (an dieser Stelle ein weiteres Eingeständnis: Ich bin ein leidenschaftlicher Käufer von Büchern). Angesichts der Tatsache, dass ich von Berufs wegen die tagesaktuelle Nachrichtenlage mitverfolgen muss und außerdem so in etwa acht Stunden Schlaf brauche, komme ich schlicht und ergreifend nicht mehr nach.

Einige der schönsten Erinnerung an meine Kindheit hängen mit Büchern zusammen. Ich kann mich noch ganz genau an den sonnigen Nachmittag erinnern, an dem ich zum ersten Mal Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“ aufgeschlagen habe. Doch im Lauf der Jahrzehnte wurde dieses kindliche Wollen vom erwachsenen Müssen überlagert. Es ist wie eine geistige Verstopfung – und ich suche immer noch nach dem Abführmittel.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2015)

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