Tramwayblues in Washington, Teil 2

Wer im Speckgürtel Wiens aufgewachsen ist, wird sich die Frage vermutlich öfters gestellt haben: Wieso gibt es einen Verkehrsverbund Ost-Region, aber keine U-Bahn zur Shopping City Süd?

Die Antwort kann man auf eine Quintessenz eindampfen: Wiens Stadtregierung glaubt, dass sie den Kaufkraftabfluss nach Niederösterreich stoppen kann, indem sie den Ausbau der U-Bahn blockiert. Das ist natürlich irrig und widerspricht den Interessen der Bürger, für die es egal ist, ob sie auf Wiener oder niederösterreichischem Boden im Stau stehen. Die Landeshauptleute prahlen, dass der Großraum Wien wächst, entheben sich aber ihrer daraus erwachsenden Verantwortung, für ein funktionierendes Nahverkehrswesen zu sorgen.

Womit ich von meinem früheren in meinen gegenwärtigen Wohnort überleiten möchte. Am 1.Dezember vorigen Jahres habe ich an dieser Stelle über die Unfähigkeit der Politiker der Stadt Washington sowie der umliegenden Gemeinden und Bezirke geschrieben, dem rasanten Bevölkerungswachstum dieser metropolitanen Region ein adäquates Mass Transit System zu verpassen. Besonders bestürzend sei der Plan, das jahrelang vorbereitete Straßenbahnnetz der US-Hauptstadt von rund 60 auf etwa 3,9 Kilometer zusammenzustreichen.

Wenn's doch so wäre! Vergangene Woche erklärte der neue Straßenbahnbeauftragte Washingtons, das Tramwayprojekt sei so mies geplant, dass es möglicherweise vernünftiger sei, die Reißleine zu ziehen. Mehr als 200 Millionen Dollar (184 Millionen Euro) wurden bereits im D.C. Streetcar Project versenkt. Die Bürger durften das berappen, eine Straßenbahn bekommen sie dafür vermutlich nicht. „Eisenbahnen“, hat der 2010 verstorbene britisch-amerikanische Historiker Tony Judt geschrieben, „sind kollektive Unterfangen zum individuellen und gemeinsamen Nutzen“. Dasselbe lässt sich für jede Form des öffentlichen Verkehrs sagen. Am dafür nötigen Gemeinsinn fehlt es in Wien und Niederösterreich offenkundig ebenso wie in D.C.

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2015)

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